Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Mit Achtsamkeit das Leben zum Besseren wenden

Foto: Christof Spitz
Foto: Christof Spitz

Interview über Achtsamkeit in einer Stressklinik

Viele sind im Vollgasmodus unterwegs, aber darunter ist oft eine tiefe Erschöpfung verborgen. Die Therapeutin Sagra Hannich spricht über ihre Arbeit an einer Stressklinik, die auch Achtsamkeit integriert. Achtsamkeit biete eine echte Perspektive für die Heilung und um neue Gestaltungsspielräume zu entdecken.

Die Tagesklinik für Stressmedizin in Hamburg-Harburg bietet eine achtwöchtige teilstationäre Behandlung für Menschen mit Angststörungen und Erschöpfungsdepression an. Vormittags finden die Behandlungen statt, nachmittags kehren die Patienten heim. Das Angebot integriert Psychotherapie, Psychopharmakologie und Achtsamkeit und wird von einem interdisziplinären Team koordiniert. Die Achtsamkeitslehrerin Sagra Hannich hat 15 Jahre dort gearbeitet – bis Ende Januar 2024.

Das Gespräch führte Birgit Stratmann

Frage: Sie haben 15 Jahre als Achtsamkeitslehrerin und Therapeutin in der Tagesklinik für Stress gearbeitet. Für wen ist dieses Angebot?

Hannich: Wenn Menschen ihre depressiven Symptome, Panik oder Ängste nicht mehr kompensieren können und arbeitsunfähig werden, suchen sie ihren Arzt auf. Manche brachen zuvor weinend am Schreibtisch zusammen oder spürten eine ähmende, bleierne Antriebslosigkeit.

Das alles kann die Folge zunehmender Arbeitsbelastung sein: Mehr Arbeit wird auf weniger Schultern verteilt, es gibt Konflikte in Teams sowie Gratifikationskrisen, also mangelnde Anerkennung für was, was man tut. Viele Patienten berichten, dass sie all das mit ihren Vorgesetzten oder im Team angesprochen haben, aber sich nichts geändert hat. Viele sind wütend, manche verbittert oder resigniert und können keinen konstruktiven Blick auf ihre Arbeitssituation werfen.

Wir ermutigen Menschen, vom Erdulden ins Gestalten zu kommen.

Was ist das Ziel der Behandlung?

Hannich: Zuerst bringen wir die Patientinnen und Patienten wieder mit sich selbst in Kontakt. Viele haben bestimmten Konditionierungen, etwa dass sie nicht Nein sagen können. Hier kommt die Achtsamkeit ins Spiel mit der Frage: Was geschieht, wenn der Autopilot mir den Impuls eingibt, nach jeder Aufgabe zu greifen?

Wäre also mehr Selbstfürsorge ein Ziel der Achtsamkeit?

Hannich: Ja, aber nicht in Sinne der Vermeidung, sondern sich selbst besser verstehen lernen – die evolutionäre Ausstattung, die verschiedenen Systeme im Gehirn, aber auch die Prägungen aus unserer Biografie.

Die Achtsamkeit soll den Betroffenen helfen, sich ihren körperlichen und seelischen Leiden erst einmal zuzuwenden und dafür Akzeptanz zu entwickeln. Unsere normale Reaktion auf Leiden ist, dass wir es weghaben wollen, für immer. Da ist ein enormer Widerstand. Die Achtsamkeit geht den umgekehrten Weg: das Leiden anschauen, zulassen und annehmen. Das zu tun, ist ein Riesenschritt.

Es geht nicht um Verweigerung und totalen Rückzug. Stattdessen werden die Menschen ermutigt, vom Erdulden ins Gestalten zu kommen, neue Gestaltungsspielräume zu erkennen. Und diese können auch im Äußeren liegen, etwa dass man mit seiner Chefin etwas anderes aushandelt.

Die Achtsamkeit lädt dazu ein, das Getriebensein zu spüren.

Könnte man sagen, dass die die Menschen lernen, anders im Leben zu sein?

Hannich: Mit Erfahrung in Achtsamkeit kann man erkennen, dass es wichtig ist, auch schwierigen Zuständen bewusst und achtsam zu begegnen. Diese sind Teil unseres Lebens. Schwieriges zu akzeptieren, ist heilsam.

Wenn ich mit mir im Kontakt bin, weiß ich besser, was ich nicht möchte und bin eher in der Lage, auch nach außen hin für meine Bedürfnisse einzustehen – und zwar auf konstruktive Art, nicht im Sinne von: „Ich will das, und wenn ich es nicht kriege, dann kündige ich“, sondern eher: „Da sind Bedürfnisse, etwa nach Entspannung, und die dürfen sein.“ So kann man einen pünktlichen Feierabend aushandenl und dann auch einhalten, egal wie andere darüber denken mögen.

Eine bessere Balance zwischen An- und Entspannung gehört dazu. Denn wir erleben ja den Stress nicht nur auf Arbeit, sondern auch privat. Das ganze Leben ist durchgetaktet, es gibt kaum Räume, um zur Ruhe zu kommen, mal nicht aktiv zu sein, nichts zu tun.

Für viele Menschen ist es extrem unangenehm, einfach still da zu sitzen.

Hannich: Man kommt in Kontakt mit der ganzen inneren Unruhe, der wir normalerweise blind folgen. Menschen rasen durch ihr Leben und entwickeln sogar eine Angst davor, anzuhalten. Das geschieht oft erst, wenn Körper oder Seele „streiken“.

Die Achtsamkeit lädt dazu ein, das Getriebensein zu spüren und dennoch innezuhalten. Viele sind im Vollgasmodus unterwegs, doch darunter verbirgt sich eine große Müdigkeit und Erschöpfung. Diese Ambivalenz – einerseits die Raserei, andererseits das Gefühl der Antriebs- und Freudlosigkeit – ist sehr unangenehm.

Können Sie ein Beispiel geben?

Hannich: Bitten wir eine Person, einfach aus dem Fenster zu schauen, ist das erste, was sie sieht, dass es schmutzig ist. Sofort möchte sie aufstehen, um das Fenster zu putzen. Von diesen Impulsen gibt es jeden Tag Hunderte.

Das genaue Hinschauen ist Achtsamkeit: Was passiert hier gerade? Ah, da ist der Impuls aufzuspringen und etwas zu tun. Wir lernen, in dem ganzen Schlamassel sitzen zu bleiben und die Erfahrungen einfach anzuschauen. Und dann bewusst zu wählen: Was ist jetzt dran, ausruhen oder putzen?

Aus dem Zen kennen wir das Bild des aufgewühlten Schlamms, der Zeit braucht, sich zu setzen. Erst wenn der Blick klarer wird, sehen wir, was der nächste Schritt wäre. Das kommt aus den tieferen Ebenen des Erlebens, nicht aus dem Alltagsgeist.

Achtsamkeit hilft, das Storytelling im eigenen Geist zu durchschauen.

Sie sprachen von Widerständen, wenn man plötzlich nach innen schaut. Wie geht man damit um?

Hannich: In der Klinik starten wir morgens mit einer Meditation. Die Aufgabe ist einfach nur, still zu sitzen, dem Atem zu folgen und zu beobachten, was geschieht. Die Neulinge sagen dann oft: „Meditation ist nichts für mich, es hat nicht geklappt, es war furchtbar.“

Das erforschen wir dann: Die Person hat sich hingesetzt, und dann ging das Gedankenkarussell los. Es kam ihr alles noch unruhiger und chaotischer vor als zuvor. Ein unangenehmes Erlebnis. Und obendrein bewertete sie sich sogleich selbst: „Das kann ich nicht, ich mache es falsch.“

Dahinter steht die falsche Annahme, Meditation würde bedeuten, dass keine Gedanken da sind. Das Gegenteil ist der Fall: In der Achtsamkeit lernen wir, alle Gedanken überhaupt erst wahrzunehmen und anzuschauen.

Die Achtsamkeit ist eine Übungspraxis. Wir merken schon bald, dass wir es in der Hand haben, worauf wir die Aufmerksamkeit lenken. Es ist meine Entscheidung – das ist den wenigsten bewusst. Es ist ein anstrengender Weg, aber wirklich lohnenswert.

Wozu ist das gut?

Hannich: Durch die Achtsamkeit kann ich das Storytelling im eigenen Geist durchschauen. Zum Beispiel: Ich bin gerade in einer guten Situation, aber dann schießt mir der Gedanke an die Arbeit durch den Kopf. Der Geist malt sich aus, was alles Schlimmes geschehen könnte. In diesem Zustand kann es sein, dass wir gar keine andere Perspektive mehr für möglich halten.

Ein weiterer Aspekt der Achtsamkeit ist, dass ich mich quasi selbst innerlich beobachten kann, ohne verstrickt zu werden. Normalerweise steigt ein Gedanke steigt auf, ich identifiziere mich mit seinem Inhalt, halte ihn für wahr und folge ihm. Daraus entwickeln sich Gefühle und Handlungsimpulse, die nicht hinterfragt werden. Mit Achtsamkeit kommen wir dem Geist auf die Schliche, so entsteht mehr innere Freiheit.

Die Präsenz aufrechterhalten und mit dem sein, was ist.

Was sind die größten Hindernisse für Sie als Therapeutin?

Hannich: Es kommt vor, dass Menschen im Kontext von Meditation eine Panikattacke bekommen. Sie litten schon an Panik, aber das stille Sitzen kann dies zunächst verstärken. Dann haben sie am Abend schon Angst vor der nächsten Morgenmeditation.

Es ist ein bisschen Arbeit, die Patientinnen dazu anzuregen, es einfach wieder zu versuchen. Irgendwann machen sie die Erfahrung: Die Welle der Erregung steigt hoch, das Herz schlägt bis zum Hals, ihnen wird heiß und kalt. Doch sie klingt selbst wieder ab, wenn man sie nicht mit negativen Gedanken weiter hochschaukelt. Man kann lernen, mit dem Bewusstsein auf der Welle der Erregung zu reiten, ohne unterzugehen.

So ist es im Prinzip mit allen unangenehmen Gefühlen – und natürlich auch mit angenehmen. Es geht darum, die Präsenz aufrechtzuerhalten und im Kontakt mit dem gegenwärtigen Geschehen zu bleiben.

Ich hatte eine Patientin mit einer Panikstörung, die kaum noch aus dem Haus gehen konnte. Schon wenn sie die Türklinke drückte, stieg Panik auf. Sie hat dieses Muster mit kontinuierlicher Achtsamkeitsübung durchbrechen können. Sie könnte mit ihrer Angst in den Hausflur gehen und wieder an der Welt teilhaben.

Kommen Sie manchmal an Grenzen?

Hannich: Wir arbeiten interdisziplinär im Verbund mit Psychotherapie und Psychopharmakologie. Und das ist hilfreich, denn manche Menschen brauchen Medikamente, bevor die Achtsamkeit wirksam werden kann.

Irgendwann hört das Streben danach auf, dass man selbst oder die Situation anders sein sollte.

Würden Sie Ihre Arbeit als eine erfüllende Zeit beschreiben?

Hannich: Auf jeden Fall, vor allem, wenn man sieht, wie Menschen regelrecht aufblühen, die in schwierigen Verfassungen kamen. Auch spürt man die Dankbarkeit – von manchen bekomme ich noch immer Weihnachtspost.

Das Schöne ist: Wer Achtsamkeit in den Heilungsprozess integriert, gibt den Menschen längerfristig Mittel an die Hand, die sie ihr ganzes Leben anwenden können. Die Achtsamkeit verändert ihre Perspektive auf sich, das Leiden und verändert so ihr Leben existenziell.

Was ist für Sie der Kern des inneren Wachstums?

Hannich: Sich tiefer zu verstehen – mit Licht und Schatten, gerade aber auch  mit den destrutiven Kräfte wie Hass, Täuschung, Gier und vieles mehr. Zu sehen, wie sich auswirken, auf mich selbst und meine Beziehungen.

Wir können lernen, uns das innere Schauspiel anschauen, ohne zu agieren, ohne das zu tun, was der Hass oder die Gier von mir verlangen. Wir müssen nicht mehr weglaufen, vermeiden, uns ablenken. Wir agieren diese Kräfte nicht mehr aus und projizieren sie auch nicht nach außen. So verlieren sie ganz allmählich ihre Kraft und wir haben mehr Wahlfreiheit.

Gleichzeitig müssen wir auch nicht vorgeben, jemand anders zu sein, der all diese schmerzvollen Anteile nicht hat. Das entlastet ungemein. Irgendwann hört das Streben danach auf, dass man selbst oder die Situation anders sein sollte. Man verweilt mit dem, was ist, und durchschaut die Neigung des Egos, nach allem zu greifen.

Wenn man spirituell reift, gibt es irgendwann nichts mehr zu werden, es gibt keine Methoden mehr zu lernen, sich zu verbessern. Da wird einem der Teppich des Werdens unter den Füßen weggezogen, wie bei einem Sterbeprozess.

Foto: Christof Spitz

Sagra J. Hannich ist Achtsamkeitslehrerin sowie MBSR-/MBCT- Ausbilderin. Von 2009 bis 2024 war sie Therapeutin an der Tagesklinik für Stressmedizin in Hamburg-Harburg. Sie hat das Weisheitstraining im Netzwerk Ethik heute mitentwickelt und unterrichtet auch hier.

 

Shutterstock

Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Kategorien