Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Suche
Close this search box.

Mit Achtsamkeit wird die Bildung wieder lebensdienlich

Nikioahg
Nikioahg

Ein Interview über Achtsamkeit an der Hochschule

Prof. Mike Sandbothe spricht im Interview über erweiterte Formen der Achtsamkeit, etwa den sozialen und ökolgischen Bodyscan, und wie wichtig es ist, Gefühle und Bedürfnisse mehr zu integrieren. Das Bildungssystem könne sich von innen heraus verändern, wenn sich die Grundhaltung ändert.

 

Das Interview führte Mike Kauschke

Frage: Wie hat sich der erweiterte Begriff der Achtsamkeit in Ihrem Hochschulkonzept entwickelt?

Sandbothe: Wir hatten bereits vor der Corona-Pandemie Achtsamkeit für Studierende, Lehrende, Mitarbeitende und Führende an Thüringer Hochschulen angeboten, in Anlehnung an das Programm „Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“ (MBSR) und angepasst an die Bedürfnisse der Hochschule.

Während der Corona-Zeit nahm die Vereinsamung zu. Daher haben wir die Arbeit mit Dyaden intensiviert. Das sind Meditationen zu zweit, die Empathie und Mitgefühl schulen. Weiter haben wir mehr Achtsamkeitsübungen in Klein- und Großgruppen angeboten.

Der Transformationsforscher Otto Scharmer hatte uns 2019 in Jena besucht und ökosystemische Gruppenübungen vorgestellt. Davon haben wir uns inspirieren lassen und unser Achtsamkeitsverständnis mehrdimensional angelegt.

Was ist das Besondere daran?

Sandbothe: Dieser Ansatz ermöglicht eine Form von Bildung, die kognitive, emotionale und körperbezogene Dimensionen verbindet. Scharmer beschreibt das als achtsamkeitsbasierte Verbindung von Open Mind, Open Heart und Open Will.

Gerade im Zeitalter des Klimawandels ist die vertikale Verbindung unseres Wissens mit den Gefühlen und Handlungskräften wichtig, um die Kluft zwischen Wissen und Handeln zu schließen.

Das gelingt am besten, wenn wir unser Bewusstsein nicht nur als individuelles Phänomen, sondern auch als soziales, systemisches und ökologisches Prozessgeschehen erfahrbar machen und durch entsprechende Übungen weiterentwickeln.

Achtsamkeit hilft zu sehen, was man für ein gutes Leben braucht.

Wie ist Ihre Erfahrung mit dieser mehrdimensionalen Achtsamkeitsbildung bei den Studierenden?

Sandbothe: In den ersten sieben Wochen unseres Mindfulness Based Student Training führen wir Achtsamkeit als individuelle Praxis ein. Die Studierenden bauen eine eigene Tagespraxis von 10 bis 15 Minuten auf.

Nach drei oder vier Wochen merken sie, dass sie damit beginnen, in ihrer To-Do-Liste neue Prioritäten zu setzen. Die Achtsamkeit verändert ihre Grundhaltung. Und so können sie aufhören, alles so zu tun, wie sie es immer getan haben.

Sie überlegen: Wie kann ich die Dinge, die mir wichtig sind, so sortieren, dass ich dabei gesund bleibe? Wie kann ich mein Studium so gestalten, dass ich ein gutes Leben führe?

Ab der zweiten Woche treffen sich die Teilnehmenden jede Woche einmal zu zweit und führen eine Dyade durch, z. B. mit Fragen wie: „Welche Situation war für dich bei der Tagespraxis in dieser Woche schwierig und wie hat sich das im Körper angefühlt?“

Durch diese Übungen können sie lernen, andere Menschen so zu sehen, wie sie sich selbst durch die Achtsamkeit sehen.

Welche Übungen gibt es sonst noch?

Sandbothe: Dann geht es noch einen Schritt weiter und zwar mit einer Gruppenübung, die wir „Social Body Scan“ nennen. In dieser Übung lernen die Studierenden, den sozialen Körper einer Vierer- oder Fünfer-Gruppe achtsam wahrzunehmen.

Der Social Body Scan gibt eine Form an die Hand, sich gegenseitig Feedback zu geben über das, was der Einzelne in die Gruppe bringt: Welche Gefühle kommen bei mir an, wenn ich dir zuhöre? Was macht das mit deinen, meinen, unseren Handlungskräften, wenn ich dir zuhöre?

Studierende wollen lernen, auch den sozialen und ökologischen Körper zu spüren.

In der zehnten Woche kommt der „Eco Body Scan“ hinzu, den man in Präsenz am besten in einer Großgruppe (10-20 Personen oder mehr) praktiziert, um den ökosystemischen Kontext achtsam wahrzunehmen. 8 bis 10 Teilnehmende lassen dabei eine Menschenskulptur entstehen.

Die Aufgabe besteht darin, die eigene Hochschule oder den eigenen Fachbereich aufzustellen, also die Lehrenden, die Führenden, die Mitarbeitenden, den Campus, die Eltern, die Freunde sowie darüber hinaus den Planeten Erde, marginalisierte Gruppen und das höchste Zukunftspotenzial.

Die anderen bilden die Gruppe der Beobachtenden. Sie nehmen den Prozess bewusst und präzise wahr und beschreiben anschließend, wie sich die Menschenskulptur geformt und wohin sie sich im zweiten Entwicklungsschritt der Übung entwickelt hat.

Online nutzen wir eine alternative Variante mit Spielfiguren und Naturmaterialien oder mit Lego Serious Play.

Welche zukünftigen Potenziale zeigen sich in solchen Prozessen?

Sandbothe: Die Digital Natives, die mit dem Smartphone groß geworden sind, haben eine starke Motivation, sich selbst und die Welt auf neue Weise zu entdecken. Viele kennen die innere Leere und Einsamkeit, die durch Social Media entstehen kann.

Zugleich sind sie besorgt über den Zustand des Klimas und der natürlichen Lebensbedingungen. Sie wollen lernen, den biologischen, sozialen, systemischen und ökologischen Körper zu spüren.

Das Bildundssystem kann sich selbst transformieren.

Wie erleben Sie die besondere Anforderung, sich auf diese emotionale Ebene einzulassen – liegt darin auch eine Gefahr der Überforderung?

Sandbothe: Es gibt gerade unter jungen Menschen steigende Zahlen für Burn-Out, Depression, ja sogar Suizid. Das ist eine Situation, die auch daraus entsteht, dass Gefühle in unserer bisherigen Bildungskultur systematisch verdrängt wurden.

Das Prinzip, den Menschen auf seine Gedanken zu reduzieren, ist nicht gesund. Deshalb kann die mehrdimensionale Achtsamkeit sehr hilfreich sein.

Welche Verantwortung übernehmen wir für die Gesundheit von Studierenden, wenn wir sie sieben Semester lang mit 300 Leuten in einen Hörsaal setzen, wo sie den Lehrenden anschauen, aber nicht die Kommilitoninnen? So drücken sie es aus: „Bisher kannte ich die anderen Studierenden hauptsächlich von hinten.“

Wer über viele Jahre geschult wurde, Gefühlswahrnehmung und Körperbewusstsein zu verdrängen, braucht einen Safe Space, um diesen Prozess zu hinterfragen. Deshalb ist es wichtig, dass die Teilnahme an Achtsamkeitangeboten zwar mit ECTS-Punkten honoriert wird, aber keine Pflicht ist und bei Bedarf auch psychosoziale Beratung hinzugezogen werden kann.

Wie sehen Sie die Wirkung der Achtsamkeitsübungen auf Studienqualität und die Ausrichtung der Hochschulen?

Sandbothe: Die Achtsamkeitsübungen sind eine Brücke zwischen einer horizontalen und vertikalen Bildung. Die Studierenden sind bislang fixiert auf Leistung und Ergebnisse, schnell auswendig lernen, Punkte sammeln.

Durch die Achtsamkeitsangebote fangen sie an, ihre Wahrnehmungen, Bedürfnisse und Hoffnungen ernster zu nehmen.
Viele sagen, dass sie ein Studium wollen, das sich stärker am Menschen, an der Praxis und an den ökologischen Herausforderungen orientiert.

Was ist Ihre Vision für eine ganzheitliche Bildung?

Sandbothe: Unsere Hoffnung ist, dass sich an Hochschulen entsprechende Brückenangebote für alle Zielgruppen etablieren. Es gibt mittlerweile mehr als 30 Hochschulen in der D-A-CH Region, die mehrdimensionale Achtsamkeitstrainings durchführen.

Dazu gehören die Unikliniken in Ulm und Göttingen, die Uni Leipzig sowie die Hochschule Darmstadt. Ein groß angelegtes Entwicklungsprojekt an der Berliner Charité ist in Vorbereitung.

Achtsamkeitstrainings verändern die Grundhaltung der Hochschulangehörigen, darüber kann sich die ganze Bildungslandschaft verändern. Schon jetzt beginnen Hochschulangehörige, ihre Fächer auf lebensdienliche Weise neu zu erfinden.

Das System transformiert sich selbst, wenn man den Akteuren die Tools an die Hand gibt, die ihnen dabei helfen, das Bewusstsein individuell, sozial und ökosystemisch weiterzuentwickeln.

 

Foto: Mike Sandbothe

Prof. Dr. Mike Sandbothe ist Professor für Kultur und Medien und Direktor des Instituts für Innovative Gesundheitstechnologien an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Zusammen mit PD Dr. Reyk Albrecht hat er die überregionale Kooperationsplattform Achtsame Hochschulen und das Bildungsunternehmen Achtsam.Digital gegründet.

Weitere Informationen:

Mike Sandbothe, Reyk Albrecht und Hubert Ostermaier: Achtsamkeiten. Übungen für mich, für uns und für die Welt, Bielefeld: fischer&gann 2023.

Mike Sandbothe und Reyk Albrecht (Hrsg.): Achtsame Hochschulen in der digitalen Gesellschaft, Bielefeld: Verlag transcript 2024.

www.achtsamehochschulen.de
www.achtsam.digital

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Aktuelle Termine

Online Abende

rund um spannende ethische Themen
mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen
Ca. 1 Mal pro Monat, kostenlos

Auch interessant

Foto: Karl Gabor

“Man könnte schnell eine gerechte Weltordnung entwerfen”

Interview mit Jakob von Uexküll Jakob von Uexküll ist Gründer des Weltzukunftsrates, der sich als eine Vertretung zukünftiger Generationen versteht. Im Interview mit Geseko von Lüpke fordert der 80-Jährige angesichts globaler Krisen Lösungen, die aus der Zukunft heraus gefunden werden: „Wir haben alles, was wir brauchen, um eine andere Welt aufzubauen“.
fizkes/ Shutterstock

Barrieren abbauen

Eine Hochschule als Vorbild der Inklusion Das Annelie-Wellensiek-Zentrum für Inklusive Bildung ist das erste seiner Art an einer Hochschule. Es bildet Menschen mit kognitiven Beeinträchtigung zu Bildungsfachkräften aus. Diese geben dann ihre Erfahrungen an die Studierenden weiter. Kirsten Baumbusch über ein innovatives Projekt.

Newsletter abonnieren

Sie erhalten Anregungen für die innere Entwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir informieren Sie auch über Veranstaltungen des Netzwerkes Ethik heute. Ca. 1 bis 2 Mal pro Monat.

Neueste Artikel

Cover Gefühle der Zukunft

Künstliche Intelligenz und die Welt der Emotionen

Wichtiges Buch über emotionalisierte KI Können Maschinen fühlen und unsere Gefühle beeinflussen? Eva Weber-Guskar, Professorin für Ethik und Philosophie der Emotionen, zweifelt an der Authentizität der Gefühle, die KI erzeugt. Trotzdem kann KI auch die menschliche Gefühlswelt beeinflussen. Sie warnt vor emotionaler Entfremdung.
mickmorley/ Photocase

Muss ich meine Geschwister lieben?

Kolumne Beziehungsdynamiken Autorin und Familientherapeutin Mona Kino beantwortet in ihrer Kolumne “Beziehungsdynamiken verstehen” eine Frage zum Thema Geschwisterliebe: „Ich verspüre keine so enge Bindung an meinen Bruder. Ist es wirklich notwendig, dass ich ihn liebe?“
Bomben der Hamas auf Israel, Ameer Massad/ Shutterstock

„Viele Israelis fühlen sich von der Welt verlassen“

Interview mit Dr. Michael Blume „Wer zum Terror der Hamas schweigt und Israel kritisiert, zeigt seine Doppelmoral," sagt Dr. Michael Blume, Beauftragter des Landes Baden-Württemberg gegen Antisemitismus. Im Interview nennt er drei Kriterien für einen auf Israel bezogenen Antisemitismus, wehrt sich aber dagegen, sachliche Kritik an Israels Regierung als "Antisemitismus" abzutun.
Nikioahg

Kategorien