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Mit Ethik die Welt retten?

Jens Nagels
Das Interesse an der Diskussion war groß. Das zeigten auch die vielen Publikumsfragen. |
Jens Nagels

Diskussion mit Dr. Bennent-Vahle und Paul Kohtes

Im Rahmen des Dalai Lama Besuchs in Hamburg lud das Netzwerk „Ethik heute“ am 22.8. zu der Veranstaltung „Mit Ethik die Welt retten?“ ein. Die Philosophin Dr. Heidemarie Bennent-Vahle und der Führungskräftecoach Paul Kohtes sprachen im gut gefüllten Saal 6 des CCH darüber, wie menschliche Werte heute gelebt werden können.
Die Philosophin Dr. Bennent-Vahle sprach in ihrem Einführungsvortrag darüber, dass sich ethische Orientierung nicht universalisieren lasse. Moralisches Handeln müsse nach Einzelfall entschieden werden, je nach Situation und Kontext. Für sie ist Ethik daher kein detailliert ausgearbeiteter Regelkatalog mit allgemein gültigen Gesetzen.
„Eine echte moralische Haltung ist ohne eigenes Nachdenken nicht möglich“, so Bennent-Vahle. Es gebe dennoch eine Richtschnur für ethisches Handeln. In diesem Zusammenhang zitierte sie den Philosophen Emmanuel Lévinas, wonach der Kern der Ethik darin bestehe, eine Haltung einzunehmen, die anderen zunächst einmal unbedingten Vortritt gegenüber dem eigenen Interesse gibt. Diese Gedanke sei nah an den Gedanken des Dalai Lama, wonach sich ethische Handlungen immer am Wohl der anderen orientieren sollten.
Ethik braucht Gefühle

Dr. Heidemarie Bennent-Vahle, Foto: J.Nagels
Dr. Heidemarie Bennent-Vahle, Foto: J.Nagels

Für die praktische Philosophin steht Mitgefühl als Entfaltung der Menschlichkeit und Fähigkeit zur Verbundenheit mit allen Menschen im Fokus des Ethischen. „Als Fühlende sind wir von der Welt betroffen und mit ihr verbunden. Die eigene Leidfähigkeit sowie die emotionale Verbundenheit mit anderen sind die Basis der Mitempfindung“, so Bennent-Vahle.
„Eine echte ethische Haltung bedarf der Gefühle.“ Wichtig sei es, durch emotionales Erleben Verbundenheit als Quelle des Glücks zu erkennen und Leidenschaften zu kontrollieren. Dennoch befand sie Sinnfindung im Leben wichtiger als Glück.
Beeindruckt zeigte sie sich von der Einstellung des Dalai Lama, wonach der erste Nutznießer des Mitgefühls immer man selbst sei. Die dazu nötigen Grundlagen wie Nachdenken, Geduld und die Einübung des Mitgefühls durch Meditation benötigten jedoch Zeit und Ausdauer. „Diese stehen im Kontrast zu unserem heutigen Lebenstempo.“ Die Kultivierung von Mitgefühl sei daher eine lebenslange ethische Forderung. Sie erfordere die Arbeit am Selbst.

Wir stehen vor einem unlösbaren Dilemma

Zenlehrer Paul J. Kohtes, der sich mit seinem Programm „Zen for Leadership“auf das Coaching von Führungskräften spezialisiert hat, bezeichnete persönliche Betroffenheit als die Tür, mit der man das Thema Ethik erschließen könne. Seiner Ansicht nach sind wir von unlösbaren Problemen umzingelt, seien es Beziehungen, genetische Selektion oder Völkermord. Wie gehen wir damit um? „Das Dilemma ist unlösbar“, so Kohtes. Wichtig findet er den Versuch, die Betroffenheit aufrechtzuerhalten und dieses Dilemma auszuhalten.

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Paul Kohtes, Foto: J. Nagels

„In unserer Gesellschaft sind wir gewohnt, alles steuern und kontrollieren zu können.“ Die Fähigkeit, Dinge stehen zu lassen und auszuhalten, sei für uns Westler schwierig. Das ethische Dilemma werde gerne funktionalisiert. Das Problem westlicher Wirtschaftsführer sei das Festhalten an Konzepten und die Überzeugung, dass die Dinge so zu funktionieren haben.
In der anschließenden Diskussion stimmte Bennent-Vahle zu, dass das Denken im Westen generell stark lösungs- und ergebnisorientiert sei. Zenlehrer Kohtes provozierte: : „Nicht-Handeln ist genauso eine starke Kraft wie das Handeln.“ Der japanische Zen-Buddhismus helfe dabei, einfach Mensch zu sein.
Im Christentum dagegen beobachte er den Versuch, durch Ethik reglementieren zu wollen. Er kenne das von Unternehmen. Der Versuch, durch ein ethisches Grundgerüst das Miteinander schriftlich zu fixieren, führe in der Praxis genau zum Gegenteil. Die Folge sei, dass man objektiviert und die Verantwortung abgibt. „Organisiertes Mitgefühl ist immer problematisch, weil es nicht von Innen herauskommt“, so Kohtes. Diese Maßnahme verhindere es, das Leben in seiner Fülle erfahren zu können.

„Es geht nicht um Ethik, sondern um Ethos und die Überwindung der egoistischen Perspektive.“

Die Philosophin Bennent-Vahle stimmte zu: „Ethik erreicht man nicht mit Regeln. Sie entsteht nur durch Verankerung in der Persönlichkeit und durch Einsicht. Echtes Mitgefühl müsse man durch Meditation kultivieren und könne es nicht als Etikett anhaften. Sie betonte: „Es geht nicht um Ethik, sondern um ein Ethos.“ Dies sei ein innerer Prozess, rein egoistische Perspektiven zu überwinden.
Das Thema Ethik ließ keine abstrakten Pauschalantworten und Patentlösungen zu. Nicht enden wollende Fragen kamen aus dem Publikum.
Wie riskant es ist, die Welt „retten“ zu wollen? Wie sieht eine gerettete Welt aus und wer bestimmt dies? Ob sich mit Waffen ein Völkermord verhindern lasse? Ob es ethisch sei, in Konfliktsituationen nichts zu tun? Die Antwort von Paul Kohtes: „Es gibt dafür keine Lösung. Handeln Sie jetzt und erhalten Sie die Betroffenheit aufrecht!“
Bennent-Vahle: „Wir haben keinen direkten Einfluss auf die Krisenherde in der Welt.“ Auch Enttäuschung bezüglich der Erwartungen an einen Weltfrieden wurden laut. Eine Mutter: „Die Welt wächst mir über den Kopf, vor allem, wenn meine Kinder Nachrichten hören.“ Bennent-Vahle: „Wir können mit Ethik nicht in die Köpfe hineinregieren.“ Es ginge darum, ein Ethos mitzugründen und Mitgefühl in der Kindererziehung zu kultivieren. Ihr Rat: „Wir können nur da wirken, wo wie selber stehen, – in unserem eigenen Umfeld.“

Ethos: nicht auf Kosten anderer leben

Klar wurde bald: Beim Thema Ethik lassen sich keine Regeln aufstellen, wie eine Handlung zu beurteilen sei. Als Motivation bezeichnete Bennent-Vahle die Grundhaltung des Ethos, nicht auf Kosten anderer zu leben. Ein moralisches Urteil lasse sich nur im Einzelfall erheben. So könne sogar ein Mord unter Extrembedingungen unter Umständen gerechtfertigt sein, wenn er viele Menschenleben retten könne.
Für Kohtes lautet die richtige Frage: „Wie kann ich mit ´meiner` Ethik die Welt retten?“ Im Anspruch, die Welt zu retten, liege etwas Vermessenes, so Bennent-Vahle. „Es kommt auf die innere Haltung an!“ Jeder sei Experte der eigenen Lebenswirklichkeit.
Ethik als eine Haltung der Liebe und Fürsorge brauche Zeit: ein Eingehen, Zuhören, Zurücknehmen. Sie bedauerte, dass wir in unserer Gesellschaft der „modernen Krieger“ diese Räume nicht mehr haben.
Kohtes sprach sich dafür aus, die Sehnsucht nach einer heilen Welt zu kultivieren. Dieser Anspruch sei „die halbe Miete“. Auch eine Krise sei eine Chance der Transformation zu etwas Besserem. Dabei bezeichnete er jedoch den Glauben an Heilslehrer als gefährlich. Auch Moderator Dr. Karsten Schmidt warnte: „Die Quelle aller autoritären Systeme ist es, durch den ´wahren` Glauben eine bessere Welt herbeizuführen.“
Differenzen bei den Referenten gab es bei der Ansicht, o es überhaupt allgemeine ethische Kriterien geben könne. Bennent-Vahle nannte den Willen zur Kooperation als zentralen ethischen Wert, denn er verhindere, dass jemand einem anderen seine Regeln aufzwinge. Kohtes ließ keine gemeinsamen ethischen Werte gelten. Aus seiner Sicht könne nur der Einzelne die Welt verändern. Eine humanitäre Einstellung lasse sich nicht über Regeln erzwingen. Kohtes über die wahre Lebenskunst: „Es geht nicht um ´entweder – oder`. Die Welt ist ´sowohl als auch`.“
Resumée der spannenden Diskussion war, dass ethische Haltung immer Selbstreflexion und die Arbeit am eigenen Inneren beinhalte. Ein eindeutiges Richtig oder Falsch gibt es nicht. Ein Kriterium für Ethik sei eine altruistische Haltung, also das Glück der anderen über das eigene zu stellen und die anderen Menschen als abhängig, verbunden und gleichwertig zu sehen.
Der Moderator Dr. Karsten Schmidt formulierte zuletzt die Wichtigkeit, nicht dem Impuls zu verfallen, bei einer Antwort stehen zu bleiben und etwas festhalten zu wollen, sondern diese Diskussion als Prozess und Anregung für weitere Fragen zu sehen.
Michaela Doepke

Weitere Veranstaltungen des Netzwerks zum Thema Ethik:
Ethik-Dialoge für Eltern am 1. November
Ethik-Dialoge für Fach- und Führungskräfte am 8. November

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Die Sehnsucht nach einer heilen Welt und innere Nabelschau reichen nicht aus, wenn man ethisch handeln will. Sonst werden die “Sachzwänge”, der Anpassungsdruck und die “alternativlosen” Beschlüsse der Kräfte, die nicht ethisch handeln, in uns und um uns übermächtig. Gandhi hätte nichts verändert, wenn er auf gewaltlosen Widerstand und den Ansporn des Volkes verzichtet hätte. Liebe allein bewegt nicht genug. Es braucht die Begeisterung, die Verantwortung, die Tat und den Willen zur Kooperation. Nur so wird aus dem kristallklaren Tropfen der ethischen Erkenntnis eine überwältigende Springflut, die alle Herzen mitreißt und eine neue, heile und friedliche Gesellschaft erschafft. Die Zeit ist reif dafür.

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