Ein Buch aus der Perspektive der Aborigines
Sandtalk ist ein ungewöhnliches Buch, geschrieben aus der Perspektive der australischen Aborigines. Der Philosoph Yunkaporta bringt uns die indigene Weltsicht der Verbundenheit mit Metaphern nahe und kritisiert das westliche Zweckdenken. Das Werk lädt dazu ein, die Perspektive zu wechseln und neue Wege aus globalen Krisen zu suchen.
Wenn wir an die Kultur der australischen Aborigines denken, fallen uns vermutlich Didgeridoos und Traumfänger ein. Der indigene Wissenschaftler Tyson Yunkaporta, Dozent für Indigenes Wissen an der Deakin University in Melbourne, lässt keinen Zweifel daran, dass dies alles nichts mit dem reichen Wissen seiner Kultur zu tun hat. Von diesem Wissen will er uns zumindest eine Ahnung verschaffen.
Die Überlieferungen der Aborigines aber werden mündlich weitergegeben und können von einer Niederschrift nicht wirklich erfasst werden. Yunkaporta hat deshalb den Ablauf seines Buches erst einmal bildhaft in Holz geschnitzt, um beim Schreiben den Überblick nicht zu verlieren. Wer sich auf dieses faszinierende und nicht leicht zu lesende Buch einlässt, sollte am besten erst einmal zuhören, ohne Urteil und Vergleich.
Das Erste Gesetz der Schöpfung der Aborigines besagt: Nichts wird geschaffen oder zerstört, es bewegt und verändert sich nur. Es gibt nur Verwandlung. Schöpfung ereignet sich in jedem Augenblick und benötigt den Menschen als Hüter und Mitwirkenden, der mithilfe von Metaphern Erde- und Himmelswelten verbindet.
Solche Metaphern können Bilder, Tänze, Lieder, Geschichten oder Rituale sein. Jeder Stein, jeder Baum, selbst menschengeschaffene Dinge wie Verkehrsampeln enthalten für die Aborigines Wissen und gehören zum großen Muster, das der Kundige lesen kann.
Die Natur bewegt sich in Zyklen, und die Verwandtschaft bewegt sich auch. Alle drei Generationen werden die Beziehungen neu geordnet. Yunkaportas Urgroßmutter zum Beispiel ist dann gleichzeitig seine Nichte. Das hat nichts mit Wiedergeburt zu tun, sondern mit einem Perspektivenwechsel.
Spätestens hier wird klar, warum die Aborigine-Sprache bildhaft ist, in Sand gezeichnet und in Holz geschnitzt wird: Unser lineares Denken ist unfähig, dieses komplexe Beziehungssystem in seiner Gleichzeitigkeit zu begreifen und in Sprache zu übersetzen.
Im Westen geht es um Hierarchie, Macht und Kontrolle
Yunkaporta will uns aber nicht über Indigenes Wissen belehren. Er dreht den Blickwinkel um und untersucht in seinem Buch weltweite Systeme aus der Perspektive Indigenen Wissens. Könnten wir also etwas lernen aus der Weltsicht der Aborigines?
Und hier wird es kompliziert. Diese Kultur beruht auf der Verbundenheit alles Seienden; deshalb müssen alle Mitglieder eines Clans interagieren. Zwiegespräche, respektvolle Kommunikation, Zuhören und Nachdenken sind die Schlüssel für eine funktionierende Gemeinschaft.
An unseren westlichen Systemen, die nach seiner Meinung nur willfährige Untertanen erschaffen, lässt Yunkaporta folglich kein gutes Haar. Die globalen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen agierten nach dem Top-Down-Prinzip; es gehe um Hierarchie, Macht und Kontrolle.
Gemeinschaften der „First Nations“ dagegen bestehen aus kleinen, in sich autonomen Gruppen, die sich selbst organisieren und gemeinschaftlich neues Wissen erwerben. „Die Innovationen, die sich aus solchen Ökosystemen der Praxis ergeben“, schreibt Yunkaporta, „sind verblüffend, transformativ und lassen sich nicht von einem einzelnen Manager oder einer außenstehenden Instanz entwerfen oder aufrechterhalten.“
Besonders ätzend äußert sich Yunkaporta über unser weltweites Schulsystem. Er vergleicht es mit den Techniken, „die bereits in der Viehhaltung Anwendung fanden, um Pferde zu brechen oder Tiere zu zähmen“: Man trenne die Jungen tagsüber von ihren Eltern, halte sie in einem geschlossenen Raum und setze auf Belohnung und Bestrafung, um sie zu zwingen, auch sinnlosen Aufgaben Folge zu leisten.
Die Neurowissenschaften wiederum lassen aus seiner Sicht Aspekte des Bewusstseins und der Wissensübertragung außer Acht, weil sie wissenschaftlich nicht bewiesen werden können: „Die Botschaften, die uns das Land und unsere Ahnen überbringen: ein Vogel oder ein Tier, das sich seltsam verhält, eine plötzliche Windböe, eine Koinzidenz, die auf eine tiefe Bedeutung oder eine Offenbarung verweist, eine schlafartige Inspiration – all das sind Phänomene, die Wissensprozesse so heilig und magisch machen.“
Gesellschaftliche Entscheidungen in einem anderen Geist treffen
Im Original trägt das Buch den stolzen Untertitel „How Indigenious Thinking Can Save the World“. Der deutsche Verlag hat das dann doch bescheidener formuliert. Das Gesellschaftssystem der Aborigines ist ja nicht zu trennen von der Geschichte ihres Landes und ihrer Ahnen. Wir können davon nichts übernehmen, ohne in billige Folklore zu verfallen.
Die tiefere Botschaft des Buches aber liegt nicht in den faszinierenden äußeren Formen der gesellschaftlichen Organisation. Was wir aus dieser Weltsicht als Haltung übernehmen können, ist das, was wir Spiritualität nennen; ein Wort, das die Aborigines nicht brauchen, weil der Geist für sie in allem lebt und webt. Außen und Innen sind für sie keine Gegensätze, und es gibt auch nur ein Wort für die Zeit und den Raum.
Die Erfahrung der Verbundenheit alles Seienden können wir dort machen, wo Religion nicht in Machtstrukturen erstarrt ist: in der christlichen Mystik, dem Sufismus, dem Buddhismus, dem mystischen Judentum. Auch in Praktiken wie Yoga und Tai Chi, in Ritualen oder einfach beim Betrachten eines Sonnenuntergangs, in einer Liebesbegegnung.
Wir begreifen ehrfürchtig, dass dieser Planet mit allem, was auf ihm lebt, ein Wunder ist. Wenn wir gesellschaftliche Entscheidungen in diesem Geist treffen könnten, würde sich viel verändern in der Welt.
Margrit Irgang
Tyson Yunkaporta.Sand Talk. Das Wissen der Aborigines und die Krisen der modernen Welt. Matthes & Seitz 2021