Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

„Mit Putin gibt es keinen Dialog auf Augenhöhe“

Seneline/shutterstock
Seneline/shutterstock

Interview mit der Russlandexpertin Elke Fein

Hauptursache für den Krieg Russlands gegen die Ukraine ist das Weltbild Putins, verbunden mit einer ungeheuren Machtfülle, so sieht es die Russlandexpertin Elke Fein. Sie ist überzeugt, dass man Putin Einhalt gebieten und gleichzeitig versuchen sollte, die russische Bevölkerung zu erreichen.

Das Gespräch führte Birgit Stratmann

Frage: Sie beschäftigen sich seit 25 Jahren mit Russland. Wie erleben Sie diese Tage, in denen Putin mit so massiver Waffengewalt gegen die Ukraine vorgeht?

Fein: Die Ukrainer durchleben eine schreckliche Zeit. Die Gewalt, die von Putins Russland ausgeht, ist brutal und macht sprachlos. Und dennoch konnte man es kommen sehen. Nur der Grad der Eskalation ist neu.

Wo liegen die Ursachen für diese Gewaltakte heute?

Fein: Als wesentliche Ursache sehe ich Putins Weltbild und seine Handlungslogik, verbunden mit seiner ungeheuren Machtfülle. Wenn man sich seine Reden und Aufsätze der letzten Zeit anschaut, sieht man, wie sehr er einem Weltbild anhängt, das von der ehemaligen Sowjetunion und seiner Arbeit für den KGB geprägt ist.

Er glaubt, er sei umzingelt von Feinden und sieht nicht, dass sich die Welt verändert hat. Gleichzeitig hat er sich isoliert, ist umgeben von Ja-Sagern. Pluralismus und verschiedene Meinungen empfindet er als eine Bedrohung. Nicht ohne Grund hat er seit 20 Jahren die Opposition sukzessive ausgeschaltet. Seine Perspektive ist durch eine Rücksichtslosigkeit geprägt, in der berechtigte Interessen anderer nicht als solche wahrgenommen werden.

Man muss sich auch vor Augen führen, wie Putin sozialisiert ist: Er war schon als Junge ein Schlägertyp. Seine Lehrerin berichtete einmal über ihn, dass er nie verprügelt wurde, weil er zu stark und zu clever war.

Das Schlimme ist: Diese egozentrische Persönlichkeit hat jetzt eine so große militärische Macht, dass sie die ganze Welt bedroht. Das ist brandgefährlich.

Wir müssen versuchen, die russische Bevölkerung über digitale Wege zu informieren.

Wie beurteilen Sie die Politik der NATO gegenüber Russland in den letzten Jahrzehnten?

Fein: Ich denke nicht, dass sich die NATO falsch verhalten hat. Staaten haben um Aufnahme gebeten und sie hat es ermöglicht. Trotzdem hat die Ausweitung der Mitgliedsstaaten des westlichen Verteidigungsbündnisses dazu beigetragen, dass Putin sich bedroht fühlt, ob dies nun real ist oder nicht.

Übrigens haben im Februar 2022 russische Generäle der Allrussischen Generalsversammlung, das folgende Statement abgegeben: Nichts bedrohe Russland so sehr wie seine eigene unfähige Führung. Politisch und militärisch betrachtet sei die NATO zurzeit keine existenzielle Bedrohung für Russland.

Aber Putin kann das nicht annehmen. Er betrachtet die post-sowjetische Geschichte als eine Tragödie, ein – auch persönliches – Trauma, und diese Traumatisierung agiert er jetzt aus. Im Grunde müsste man Putin die Macht entziehen und ihn mit der Realität konfrontieren. Denn andernfalls geht Putin so weit, wie man ihn lässt, um die alten sowjetischen Zustände wiederherzustellen.

Was wäre jetzt die Aufgabe des Westens?

Fein: Der Westen muss Putin einhegen. Die tiefgreifenden Wirtschaftssanktionen, die schnell und in großer Einigkeit beschlossen wurden, waren ein guter erster Schritt.

Sehr wichtig finde ich, die Menschen in Russland irgendwie zu erreichen und der Staatspropaganda etwas entgegenzusetzen. Früher hat man versucht, mit Flugblättern aus der Luft aufzuklären, heute sollte man digitale Wege dazu nutzen.

In welcher Lage befindet sich die Zivilgesellschaft in Russland? Sehen Sie irgendwelche Möglichkeiten für einen Regime Change in den nächsten Jahren?

Fein: Wir haben oft genug gesehen, dass sich auch Grundlegendes in kürzester Zeit ändern kann, wenn wir entschlossen darauf hinarbeiten. Es gibt viel Unzufriedenheit mit Putin, und dies wird durch die Wirtschaftssanktionen verschärft werden.

Leider hat er die Zivilgesellschaft in den letzten 20 Jahren systematisch lahm gelegt. Es gibt keine Opposition, so gut wie keine unabhängigen Medien, keine kritischen Organisationen, aber nicht, weil die Russen sich nicht engagieren würden, sondern weil Putin brutal alles ausschaltet, was sich ihm in den Weg stellt.

Viele Menschen haben Angst, und sie haben wenig Chancen, sich Gehör zu verschaffen. Nicht alle sind so stark wie Nawalny, der noch aus dem Gefängnis heraus Reden veröffentlicht und einfach weitermacht.

Ich würde nicht in Putins Russland leben wollen.

Zerbricht mit diesem Krieg auch die Vorstellung, man könne alle Konflikte über Dialog und friedlich lösen, wenn eine Seite diese Werte überhaupt nicht teilt?

Fein: Die Vorstellung, dass man alle Konflikte friedlich lösen könnte, ist unzutreffend! Es kommt darauf an, mit wem ich einen Konflikt habe: Sind es Menschen, die an Dialog gewöhnt oder zumindest dafür offen sind und aufeinander zugehen können, dann ist natürlich das Gespräch das Mittel der Wahl.

Aber mit Menschen wie Putin kann es keinen Dialog auf Augenhöhe geben, weil er vermutlich nicht in der Lage ist, ein unvoreingenommenes Gespräch zu führen, in dem man das Gegenüber in seiner Komplexität wirklich sehen und verstehen will. Daher brauchen wir jetzt andere Maßnahmen wie Sanktionen, Boykott oder anderes.

Dann sind Sie auch für Aufrüstung, wie es jetzt in Deutschland und in der NATO diskutiert wird?

Fein: Es gibt Personen in der Weltpolitik, die nichts anderes verstehen als die Sprache der Macht. Und von denen möchte man nicht überrollt werden, ob sie Putin oder Trump heißen. Ich jedenfalls möchte nicht in Putins Russland leben.

Wenn wir darauf verzichten, uns zu schützen, werden wir möglicherweise zur Kolonie eines Aggressors mit einem politischen System, das keine Freiheiten und Menschrechte zulässt.

Gesellschaften müssen sich Transformation hart erarbeiten.

Ich höre heraus, dass wir uns in unserem Europa am besten einmauern sollten, um unsere Freiheit zu genießen. Aber das kann doch in einer globalen Welt nicht funktionieren. Und man lässt die Autokratien dann tun, was sie wollen, z.B. auch China?

Fein: Wie kommen Sie auf „einmauern“? In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass das westliche Wertemodell für viele Länder attraktiv ist. Bei aller Kritik, die wir an der westlichen Lebensweise und den Exzessen des Kapitalismus haben können, so hat es sich politisch doch als das bessere System erwiesen.

Doch es braucht Zeit, bis sich Gesellschaften transformieren, das haben wir in Deutschland auch erfahren. Man muss sich Demokratie als Gesellschaft hart erarbeiten. Am Anfang dieses Weges steht die aufrichtige Auseinandersetzung mit der eigenen undemokratischen Geschichte.

In Russland ist das auf der politischen Ebene nie wirklich geschehen. Es gab 70 Jahre lang die Sowjetunion, dann die Chaoszeit unter Boris Jelzin, dann 20 Jahre Putin, wie sollen da liberal-demokratische Tendenzen Wurzeln schlagen? Das hat mit politischer Bildung zu tun, mit freien Informationen, einer aktiven Zivilgesellschaft, Reisefreiheit, und mit der Herausbildung einer eine freie Gesellschaft ökonomisch tragenden Mittelschicht.

Anerkennen, dass Menschen so sind, wie sie sind, und nicht, wie wir sie gern hätten.

Sie engagieren sich für „integrale Politik“. Was genau ist das?

Fein: Das Integrale ist inspiriert durch verschiedene ganzheitliche Denker, u.a. Ken Wilber. Im Kern geht es zum einen darum, innere Dimensionen mit einzubeziehen, auch in die Politik.

Zum anderen bringt die integrale Perspektive einen differenzierenden Blick auf strukturelle Entwicklungsunterschiede in allen Bereichen, gerade auch im Bereich des Denkens und Verhaltens. Wir sollten uns also etwa fragen: Wie (komplex) denkt mein Gegenüber, was geht in seinem Bewusstsein vor? Und welche unausgesprochenen Werte und Handlungslogiken bestimmen das Verhalten des Menschen und damit auch die Entwicklung einer Gesellschaft insgesamt?

Viele Konflikte entstehen daraus, dass wir die Handlungslogiken des Gegenübers nicht erkennen oder falsch einschätzen. Das Missverständnis Putins durch die westliche Politik ist nur das jüngste, folgenschwerste Beispiel dafür.

Ich las in einem etwas älteren Text von Ken Wilber, integrales Denken „erkenne die Teilwahrheiten in allen Entwicklungsstufen an“. Was bedeutet das konkret für die Gestaltung der internationalen Politik heute?

Fein: Es bedeutet, zuerst einmal zu akzeptieren, dass Putin so ist, wie er ist und nicht so, wie wir ihn gern hätten. Mit dieser Tatsache muss ich arbeiten und kann nichts anderes erwarten als das, was seine Denk- und Handlungslogik – oder bestenfalls die nächst komplexere – hergibt.

Das heißt auch, anzuerkennen, wo selbst Putins begrenztes Weltverständnis einen Punkt hat, also einen Teil des größeren Bildes sieht. Zum Beispiel war es das Verdienst der Sowjetunion, Europa zusammen mit den Alliierten vom Faschismus befreit zu haben. Es ist wichtig, das anzuerkennen und langfristig die Beziehung durch Akte des Respekts da, wo Respekt angemessen ist, zu entspannen.

Doch angesichts der militärischen Eskalation glaube ich nicht, dass Putin als Person weiterhin ein akzeptables Gegenüber in der Weltpolitik bleiben kann.

Allgemein gesprochen gilt, was ich eben sagte: Dass wir gegenüber einer „selbst-schützenden“ Persönlichkeit (1) Grenzen setzen müssen, heißt nicht, dass wir unsensibel werden. Wir müssen behutsam sein und sollten sie idealiter in dem bestärken, was sie Wertvolles zu bieten hat, aber gleichzeitig dafür sorgen, dass sie – wenn sie eine Machtposition hat, möglichst wenig Schaden anrichten kann. Dies muss jetzt natürlich im Vordergrund stehen.

Wären wir nicht schon im Krieg, könnte man sagen: Nur durch die Kombination von Verständnis und klaren, spürbaren Grenzen können wir eine solche Persönlichkeit vielleicht einladen, den nächsten Schritt zu machen, hin zu einem sozialverträglicheren Verhalten. Wir sollten ihr nicht drohen, um keine Kurzschlussreaktionen hervorzurufen, wohl aber ihr Weltbild dahingehend irritieren, dass sie andere nicht mehr automatisch als Bedrohung ihrer Identität – oder gar Existenz sieht. So gesehen geht es hier nicht nur um einen „Kampf um Werte“, sondern um Übersetzungsprozesse zwischen verschieden komplexen Weltbildern.

(1) Mehr zum Begriff der “selbst-schützenden Persönlichkeit”: Elke Fein & Anastasija Wagner (2016): “Vladimir Putin as a political leader – challenges to an AD-informed analysis of politics and political culture”, in: Behavioral Development Bulletin, vol. 21, 204-222

Elke Fein & Anastasija Wagner (2016): “Vladimir Putin’s political leadership in action – two developmentally informed case studies on domestic and foreign politics”, in: Behavioral Development Bulletin, vol. 21

 

Foto: privat

Elke Fein ist Politik- und Sozialwissenschaftlerin. Sie hat sich 25 Jahre lang intensiv mit Russland beschäftigt und zur politischen Soziologie des russischen Transformationsprozess Anfang der 1990er Jahre promoviert. Seit 2000 verbindet sie die Transformations- mit der Erwachsenenentwicklungsforschung und seit 2012 mit dem Thema Leadership. Sie ist Mitbegründerin und Geschäftsführerin des Instituts für integrale Studien.

Shutterstock

Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
3 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Ich finde auch, dass man mit Putin nicht wie mit einem normalen Menschen umgehen kann, weil er als Ego-Zentriker die Wünsche anderer Menschen überhaupt nicht verstehen, sondern sie nur vernichten will. Mit ihm darf es nur einen Umgang wie mit einem Kriminellen geben, wo es zur polizeilichen Verfolgung, Verhaftung, Anklage und Verurteilung kommt, hier gerechtfertigt durch Butscha.

nein nein

Doch, doch, doch. Alles, was Elke Fein schreibt, ist voll-ständig richtig.

Kategorien