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Mitgefühl im Klassenzimmer

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Dalai Lama initiiert Ethik-Curriculum

Das in den USA entwickelte Programm „Soziales und Emotionales Lernen“ (SEL) will junge Menschen besser auf das Leben vorbereiten. Auf Initiative des Dalai Lama ist in den USA ein Curriculum entwickelt worden, das SEL um die ethische Dimension erweitert: Soziales, Emotionales und Ethisches Lernen (SEE Learning, SEEL). Im Zentrum steht das Mitgefühl.

„Wir entlassen die Kinder in die Welt mit nur der Hälfte der Kompetenzen, die sie brauchen, um zu blühen“, ist Linda Lantieri überzeugt, Expertin für „Soziales und Emotionales Lernen“ (SEL) in den USA und Mitautorin des Buches „Emotionale Intelligenz für Kinder und Jugendliche“ (mit Daniel Goleman 2009).

Unter dem Begriff SEL werden Ansätze für Schulen zusammengefasst, um junge Menschen besser auf das Leben vorzubereiten. Dazu gehört, Emotionen zu regulieren, Empathie mit anderen zu zeigen, positive Beziehungen zu führen und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.

Nach dem weltbekannten Psychologen und Buchautor Daniel Goleman, der zusammen mit Peter Senge ein Bildungskonzept entwickelt hat, deckt SEL drei Bereiche ab: sich selbst verstehen, andere verstehen und das Eingebundensein in größere Systeme verstehen. (Daniel Goleman, Peter Senge: The Triple Focus. A New Approach to Education, 2014).

Zu den in SEL vermittelten Kompetenzen gehören erstens Selbstwahrnehmung, also eigene Gefühle und Gedanken zu bemerken, zweitens die Emotionsregulation und der konstruktive Umgang mit Gefühlen sowie drittens soziale Kompetenzen wie Hilfsbereitschaft und Mitgefühl.

Ein Beispiel, wie dies in den Unterricht integriert werden kann, ist die Impulskontrolle. Die Schülerinnen und Schülern arbeiten mit dem Bild einer Ampel: Wenn die Gefühle überwältigend sind, steht die Ampel auf Rot. Man tut nichts und versucht, sich innerlich zu beruhigen. Wenn die Gefühle etwas abgeflaut sind, wechselt die Ampel auf Gelb. Dies ist der Zeitpunkt zu überlegen und die Situation zu durchdenken. Erst wenn die Ampel grün ist und man die innere Klarheit zurückgewonnen hat, kann man Handlungsoptionen ausloten.

SEE Learning: Schulung zur Selbstreflektion, Fürsorge und Verantwortung

Auf Initiative des Dalai Lama und in Anlehnung an SEL ist jetzt das Programm SEE Learining entwickelt worden: SEEL steht für soziales, emotionales und ethisches Lernen. Das Bildungsprogramm ist vom Center for Contemplative Science & Compassion-Based Ethics CCSCBE der Emory Universität in den USA ausgearbeitet und Anfang April 2019 in Delhi vorgestellt worden.

Schon 1998 hatte der Dalai Lama bei einem Vortrag auf dem Campus der Emory University die Idee aufgebracht, ein „Ethik-Curriculum“ für Schulen zu entwickeln. Denn, so der Friedensnobelpreisträger, Gesellschaft und Bildung seien zu sehr auf die materielle Entwicklung ausgerichtet. Kinder und Jugendliche sollten auch dazu befähigt werden, mit sich, mit anderen und im gesellschaftlichen Kontext achtsam, fürsorglich und verantwortungsvoll umzugehen.

Führende Bildungs-, Erziehungs- und Neurowissenschaftler haben die Idee des Dalai Lama aufgegriffen und in Jahre langer Arbeit ein „Ethik-Curriculum“ entwickelt und getestet. Auf der Tagung in Delhi wurde SEE Learning im Beisein geladener Gäste, u.a. des Dalai Lama und des indischen Bildungsministers präsentiert, der es als „Glücks-Curriculum“ bezeichnete und „ein Geschenk für die Menschheit“ nannte.

Das SEEL-Curriculum wird im Beisein des Dalai Lama in Delhi präsentiert. Foto: Tenzin Choejor, OOHDL

Das Curriculum umfasst vier Bände, die bereits in 12 Sprachen übersetzt sind: neben Englisch auch Hindi und Mongolisch; eine deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung. Es richtet sich an Kinder und Jugendliche ebenso wie an Lehrkräfte. Es kann in Grund-, Mittel- und Oberstufe und in der Hochschule unterrichtet werden und soll im deutschsprachigen Raum Ende 2019 fertig gestellt sein.

Dem Dalai Lama geht es um nichts Geringeres als „das Wohlergehen der Menschheit“, wie er in Delhi betonte. Zwar zeigten Menschen destruktives Verhalten, doch darunter läge eine mitfühlende Natur. Diese gelte es mehr ins Bewusstsein zu rücken und zu fördern, und hier solle die Bildung stärker ansetzen.

Folglich steht das Mitgefühl im Zentrum von SEEL: mit sich selbst, für andere und auf gesellschaftlicher Ebene. Das Curriculum spannt einen Bogen von kleinen Achtsamkeitsübungen im Alltag über das Schaffen eines fürsorglichen Klassenzimmers bis hin zum Engagement für Umwelt und Gesellschaft.

Wer glücklich ist, lernt besser

Prof. Kimberley Schonert-Reichl betonte auf der Tagung in Delhi, dass die Forschung das Anliegen des Dalai Lama stütze. Denn „wer glücklich ist, lernt besser“. Studien hätten ergeben, dass soziales und emotionales Lernen nicht nur die Zufriedenheit steigere, sondern auch die Lernleistung: um 11 Prozent.

Schülerinnen und Schüler, die in ihren Schulen in Indien Erfahrungen mit SEEL gemacht haben, bestätigten dies eindrucksvoll. Eine 12-Jährige sagt, sie habe selbst Freundlichkeit von anderen erfahren. „Ich hatte oft Hunger. Wenn Menschen mir etwas zu essen gegeben haben, war ich froh. Freundlichkeit kann das Leben verändern.“ Ein anderes Mädchen: „Schon eine Handlung kann die Welt verändern, zum Beispiel wenn mein Lehrer mir etwas beibringt“.

Ein achtjähriger Junge aus einem Slum berichtete in knappen Worten, wie das Training ihn unterstützt hat. Sein Vater sei tot, seine Mutter verschwunden. Er müsse sich um seine beiden Brüder kümmern. Oft sei er traurig und demoralisiert. Doch seit er in die Schule geht und mit SEEL in Berührung kam, sei er nicht mehr so traurig, würde sich weniger Sorgen um seine Brüder machen und könne besser lernen.

„Wir denken oft schlecht über uns und empfinden uns als wertlos“ beklagt eine Schülerin. Durch SEEL habe sie gelernt, sich mehr auf innere Werte auszurichten. Entscheidend sei nicht, wie viel Reichtum sie habe, wie viel Leistung sie erbracht habe oder wie gut sie aussehe, sondern welche guten Taten sie vollbracht habe.

SEEL im deutschsprachigen Raum

In Deutschland hat es sich das Tibethaus Deutschland in Frankfurt zur Aufgabe gemacht, SEEL in Zusammenarbeit mit dem Center for Contemplative Science and Compassion-Based Ethics der Emory Universität kultursensibel zu adaptieren, umzusetzen und zu evaluieren. In der Schweiz ist es der Verein „Achtsamkeit Schule Bildung“.

Ein erster Workshop fand im Januar 2018 mit 40 Lehrerinnen und Lehrern in Frankfurt statt. Es war der Auftakt für eine Pilotphase. Einzelne Lehrkräfte testen das Programm im Unterricht, geben Rückmeldung und Anregungen, daraufhin wird das Curriculum überarbeitet und angepasst.

Das Training steht und fällt mit den Lehrerinnen und Lehrern. Denn nur wenn sie selbst das verkörpern, was sie lehren, können sie es glaubhaft an die Kinder weitergeben. Daher werden sie zuerst in SEEL geschult. Dann können sie es nach ihrem Ermessen in den Unterricht einbauen.

Linda Lantieri bringt auf den Punkt, worum es geht: „Die Forschung hat gezeigt: Ein Kind kann noch so gute Noten in allen Fächern haben, es ist dadurch noch nicht fähig, ein gutes Leben zu führen, Freundschaften zu schließen und weise Entscheidungen für sich selbst und andere zu fällen.“ Birgit Stratmann

Infos:

Englische Website zu SEE Learning

Deutsch-sprachige Website

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