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Moral ist einfacher als wir denken

docstockmedia/ shutterstock.com
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Wider den Perfektionismus

Wir wollen ökologisch und sozial nachhaltig einkaufen, tun es aber nicht. Evi Hartmann, Autorin des Buches „Wie viele Sklaven halten Sie“, empfiehlt in ihrem Gastbeitrag einen anderen Ansatz: Behavioral Activation. Lieber kleine Dinge sorfot tun, als große Ideale vor sich hertragen.

 

Für die Mineralien in unseren Smartphones sterben Menschen in den Blutminen des Kongo, für unsere Kleidung und Nahrung werden sie auf den Plantagen der Schwellenländer mit Pestiziden vergiftet. Viele von uns finden die Gräuel der Globalisierung abscheulich. Dabei wollen wir nicht mehr mitmachen. Trotzdem tun wir’s oft noch. Was stimmt mit uns nicht?

Neulich beim Auspacken meiner Online-Einkäufe traf mich der Schlag: Es war mir schon wieder passiert! Schon wieder hatten sich drei, vier Artikel „eingeschlichen“, von deren Qualität, Markengüte und Preis-Leistungsverhältnis ich so eingenommen war, dass ich völlig „vergessen“ hatte nachzuschauen, ob die Produkte auch ökologisch und sozial hergestellt werden. Obwohl ich mir geschworen hatte, stärker darauf zu achten, dass in dem, was ich einkaufe, keine Sklavenarbeit oder Umweltzerstörung drinsteckt! Warum bin ich immer noch kein guter Mensch?

Seit mein Buch zu dem Thema („Wie viele Sklaven halten Sie?“) erschienen ist, weiß ich: Es geht nicht nur mir so. Immer wieder sagen und schreiben mir Leserinnen und Leser: „Ich will viel öfter ökologisch und sozial nachhaltig einkaufen. Aber ich schaffe es viel zu selten!“ Selbst Managern geht es so. Ein Einkaufsleiter gestand mir: „Neulich nach dem Meeting fiel mir beim Rausgehen ein: Haben wir eigentlich über die soziale Nachhaltigkeit beim neuen Lieferanten gesprochen?“ Wie kann es sein, dass ein hoch intelligenter Mensch so etwas Wichtiges „vergisst“? Wer ist daran schuld? Etwa wir selber?

Drei Moral-Irrtümer

Streng genommen sind nicht wir schuld, sondern drei Irrtümer. Natürlich begehen wir die Irrtümer – aber gestehen Sie mir einen Augenblick zu, diesen Unterschied zu erklären. Denn im Selbstvorwurf steckt bereits der erste Irrtum.

Moral-Irrtum 1: Wir sollten uns was schämen! Ich schämte mich nach meinem Online-Fehlkauf, der Einkaufsmanager schämte sich nach dem Meeting. Wir wollen nicht zu tief in die psychologischen Zusammenhänge einsteigen, doch auch aus persönlicher Erfahrung wissen wir: Wer sich schämt, lernt selten was dazu. Wenn wir zu einem Kind „Schäm dich!“ sagen, weiß es, dass es etwas falsch gemacht hat. Wie es die Sache richtig machen könnte, weiß es deshalb noch nicht. Leider steckt in der Konsequenz dieses Nichtwissens bereits der

Moral-Irrtum 2: Ich weiß doch, was moralisch ist – warum tue ich es nicht? Jeder Raucher weiß, dass Rauchen schädlich ist. Wissen allein ist jedoch selten handlungsleitend. Ich surfe oft lange im Internet und erschaudere angesichts der Gräuel entlang der globalen Supply Chains, ich weiß so viel darüber – und trotzdem klicke ich online auf Produkte oder greife im Einzelhandel wieder nach einem Teil, dessen Herstellungsbedingungen ziemlich suspekt sind. Damit sind wir beim:

Moral-Irrtum 3: Es fehlt uns an Motivation! Respektive: Unser Leidensdruck ist noch nicht groß genug. Jetzt wirklich? Mir dreht sich manchmal der Magen um, wenn ich Bilder aus asiatischen Sweat Shops oder den Blutminen des Kongo sehe, mehr Leidensdruck geht nicht! Dann gehe ich drei Klicks weiter online shoppen und das Magengrummeln ist wie weggeblasen. Was stimmt nicht mit mir? Mein Verständnis von Veränderung.

Wir glauben, wenn wir wissen, was das Richtige ist, dann tun wir’s auch. Wir denken, wenn wir ein Problem tiefer durchdringen, lösen wir es eher. Wir hoffen, dass wir mit „mehr Willenskraft“ endlich mit unserem fragwürdigen Konsum (oder mit Binge Viewing, Frustessen, Workaholismus …) aufhören. Und machen uns Vorwürfe, wenn wir es nicht tun. Anstatt zu erkennen: So funktioniert Veränderung nicht!

Natürlich sind Wissen, Motivation, Willenskraft, Leidensdruck oder Scham wichtig für Veränderungen – aber eben selten entscheidend. Das sagt auch Dr. Freddy Jackson Brown. Er schreibt (in: Get the Life You Want; Zitat von der Autorin übersetzt): „Wie umfangreiche Forschungen auf dem Gebiet der Behavioral Activation zeigen, gelingt uns eine Veränderung nicht automatisch dann, wenn wir uns schlau gemacht haben oder mehr Willenskraft entwickeln oder das Problem noch besser verstehen.“ Sondern?

Behavioral Activation: Mach es – jetzt!

Dr. Brown formuliert es so: „Die Antwort auf die Frage nach gewünschten Veränderungen ist viel einfacher als wir annehmen: Start doing new things!“ Also nicht recherchieren, informieren, uns schämen, Vorwürfe machen, noch mehr Wissen sammeln und Motivation und Willenskraft steigern, sondern: Machen! Einfach machen! Aber eben nicht irgendwas oder das überragend Große.

„Einfach machen!“ heißt: Mach das Einfache! Wir verändern uns nicht durch Wissen, sondern durch Machen. Noch einmal Dr. Brown: „Der Schlüssel zur Veränderung liegt darin, nach und nach neue Verhaltensweisen in deinen Alltag einzubauen. Verhaltensweisen, die dich sanft in die richtige Richtung lenken.“ Das ist kein Kalenderspruch aus einem Selbsthilfe-Buch. Das ist inzwischen ein exzellent erforschter wissenschaftlicher Teilbereich mit Namen „Behavioral Activation“ – Verhaltensaktivierung. Getestet wurde sie unter schwierigsten Bedingungen.

Tatsächlich wurde die Behavioral Activation (BA) erprobt und erforscht an jener Gruppe von Menschen, die mit Abstand die allergrößten Probleme haben, etwas, irgendetwas zu tun. Worauf tippen Sie? Richtig. Hochgradig Depressive. Wenn man so down ist, dass man nicht einmal vom Sofa hochkommt, wenn das Handy klingelt – dann lernte man früher „Wie Depression entsteht“, „Arten der Depression“, „Welche Gedanken triggern deine Depression und wie disputierst du sie?“.

Nach Jahren fand man heraus: Handeln wird selten durch Wissen aktiviert. Weil sie diesen Mangel behebt, wirkt die BA bei vielen Indikationen besser selbst als schwere Medikamente oder jahrelange Therapie. Die BA ist extrem wirksam – und ihre drei Kernprinzipien erstaunlich simpel. Sie lauten: „Easy, Rewarding & Increasing“. Demzufolge packen wir selbst unüberwindlich scheinende Aufgaben sofort und gerne an, sobald wir sie

  1. in einfache Teilaufgaben aufgeteilt haben und
  2. diese Teilaufgaben so anlegen, dass sie uns lohnend erscheinen.
  3. Wofür wir die Teilaufgaben nach aufsteigender Schwierigkeit ordnen, bei der einfachsten anfangen und uns Erfolg für Erfolg steigern.

Seit ich das weiß, nehme ich mir nicht mehr vor: „Das nächste Mal kaufe ich aber nachhaltig ein!“ Das ist – für mich! – offensichtlich zu viel. Woran ich das erkenne? Daran, dass ich es (noch) nicht mache. Also machte ich etwas anderes.

Too Small to Fail

Ich nahm mir nicht länger vor, alle meine Einkäufe nachhaltig einzukaufen – ohne es dann zu machen. Sondern ich machte – etwas anderes in derselben Zielrichtung: Ich recherchierte im Internet nachhaltige Produkte aus unseren häufigsten Einkaufskategorien – und freute mich über diesen kleinen „Erfolg“.

Die Freude beflügelte mich zum nächsten Machen: Ich machte mir eine Liste von jenen nachhaltigen Artikeln, die wir brauchen, die für uns in Reichweite und erschwinglich sind. Listen geben mir ein gutes Gefühl. Und beim nächsten Einkauf habe ich tatsächlich fünf Artikel von der Liste gekauft – so viel hatte ich noch nie bei einem einzigen Einkauf geschafft. Ich muss sagen: Es wirkt! Weil, und auch das sind BA-Prinzipien (der Prägnanz wegen im englischen Original):

  • Small change is better than no change. Eine kleine Verbesserung zu erreichen ist besser als an der großen Verbesserung zu scheitern, weil die kleine
    Verbesserung eine Sogwirkung hat, die automatisch größere Veränderungen nach sich zieht (wenn die Schwierigkeits-Rangfolge keine Sprünge aufweist): Nothing succeeds like success!
  • Too small to fail! Manche schämen sich oder kritisieren andere, wenn die Veränderung zu klein ist. Das ist ein Veränderungskiller! Wir sollten umgekehrt denken: Erst wenn ich es mache, war die Aufgabe klein genug.
  • Even “simple” activities might seem tough! Was für Sie vielleicht banal ist, ist es für mich nicht. Und wenn es für mich noch zu schwierig ist, ist es für mich noch zu schwierig. Also mache ich es nicht. Sondern etwas Einfacheres.
  • Social support helps! Wenn mich freundliche Menschen für meine kleinen Erfolge loben – anstatt mich zu kritisieren, wie es in unserer Kultur der Abwertung leider üblich ist – werde ich zu Größerem beflügelt! Wo finden Sie und ich solche Menschen? Das ist eine seltsame Frage. Zum Beispiel: Hier, bei Ethik heute. Und überall sonst im Internet und im wirklichen Leben, daher: Netzwerken!

Einfach ist gut

Natürlich hat die ganze Sache einen Haken: Wir geben uns nicht mit Kinkerlitzchen zufrieden. Wenn wir nicht hier und jetzt sofort im Alleingang die ganze Menschheit retten können, dann riskieren wir den Vorwurf der Mustermutter oder des Besserwissers von nebenan: „Was? Du kaufst/managst immer noch nicht tausendprozentig moralisch?“ Bloß weil ich mal wieder einen Notkauf in letzter Sekunde ohne Hinschauen getätigt habe! Also lasse ich es doch gleich mit der Moral: „Entweder ganz oder gar nicht!“

Das ist eine verständliche Einstellung, die ganz zu unserer Kultur der unbarmherzigen Sozialkontrolle passt. Was wir bei solchen Perfektionspsychosen und „Ich-bin-besser-als-du!“-Anfällen vergessen: Sie hindern uns daran, ein guter Mensch zu sein. Ich möchte das aber werden. Unbedingt. Also fange ich klein an. Wenn ich noch nicht angefangen habe, war es noch nicht klein genug. Und ich freue mich über jede noch so kleine Veränderung zum Besseren. Denn ich weiß: Small is beautiful! Und nicht nur das: Klein ist moralisch.

 

frhartmann_007_passbildProf. Dr.-Ing. Evi Hartmann ist Inhaberin des Lehrstuhls für Supply Chain Management an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie ist Autorin des aktuellen Bestsellers „Wie viele Sklaven halten Sie?“ und hat einen eigenen Blog.

 

 

 

 

 

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