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Nach dem Terror: Wir müssen politischer werden

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Ein Standpunkt von Christoph Quarch

Nach den Terroranschlägen von Paris hätte ein Ruck durch Europa gehen müssen. Die Bürger hätten sich zusammenschließen und eine gemeinsame Antwort finden müssen. Aber die Deutschen bleiben lieber in der Komfortzone und leben, als wäre nichts geschehen, so der Philosoph.

Es geht kein Ruck durch Deutschland. Zehn Tage nach den Terroranschlägen von Paris stelle ich fest: Die Aufregung hat sich gelegt, wir machen so weiter wie bisher. 89 Prozent der Deutschen halten das laut „Welt“ für richtig. Eine Politisierung der Menschen ist nicht festzustellen, ebenso wenig die von mir erhoffte Belebung des Gemeinsinns. Stattdessen fruchtlose Debatten über das Ob und Wie der Spielabsage in Hannover und die Wiederholung altbekannter moralinsaurer Diskurse.

Ein Beispiel für viele: Aus einem spontanen Impuls hatte ich zu einem offenen Gespräch über die Situation in unserem Land nach den Terroranschlägen in die Fuldaer Volkshochschule eingeladen. Ich dachte, es sei gut, sich in einem öffentlichen Raum zu treffen, um dort ein Stück politische Kultur zu pflegen und zu demonstrieren. Ich dachte, es werde womöglich den Menschen gut tun, in einer Zeit wie dieser zusammenzurücken und zu erfahren, dass man nicht allein ist in seiner Sorge und Hilflosigkeit. Ich habe mich getäuscht. Gekommen sind wenige, keine Presse, keine Medien. Mir scheint: Wir schwadronieren gern über politische Kultur und Freiheit. Aber wenn es darum geht, sie zu üben und zu demonstrieren … Fehlanzeige. Kein Ruck.

Mir scheint, dieses Erlebnis ist kein Einzelfall. Gewiss, die Gazetten sind voll, die Berichterstattung über den Terror und seine Hintergründe findet statt, aber oft eher sensationsheischend. Die „Bild“ zitiert aus Geheimdokumenten, und um den getöteten Drahtzieher wird ein Juchei veranstaltet, als sei ein Popstar gestorben. Es bleibt alles so oberflächlich. Der Terror wird konsumiert und der Kampf gegen ihn organisiert; nachgedacht und gesprochen wird über ihn nicht.

Was können wir als Bürger tun?

Selbst auf den Parteitagen dieser Tage wird mehr über technisch-operative Fragen der Zuwanderung gesprochen als über die kollektive geistige Herausforderung durch den Terror. Man diskutiert in Berlin mögliche militärische Operationen und eine Aufstockung des Etats für innere Sicherheit, aber ich sehe nicht, dass irgendwo die Frage aufgeworfen würde: Was können wir als Bürger tun – jede(r) Einzelne? Welche Konsequenzen sollten wir als Zivilgesellschaft aus Paris, Hannover, Mali und Brüssel ziehen? Einfach nur trotzig zu sagen: Wir lösen die Sache technisch und machen ansonsten so weiter wie bisher – das wird nicht reichen.

Im Gegenteil: In der „Welt“ vom 19. November wird über den soeben veröffentlichten „Werte-Index 2016“ berichtet. Dort erfährt man, was der Deutschen höchste Werte sind: Gesundheit, Freiheit, Erfolg. „Da fällt mir Nietzsches Rede über die „letzten Menschen“ ein: „Man hat ein Lüstchen für die Nacht und ein Lüstchen für den Tag, aber man ehrt die Gesundheit“.

Gesundheit, das ist Nietzsches Punkt, ist der letzte Wert, der einer nihilistischen Gesellschaft bleibt: „Hauptsache gesund“ – nichts ist einem näher und wichtiger als das eigene Wohlergehen. Für universale Tugenden wie Gerechtigkeit, Solidarität, Naturschutz ist da kein Platz. Der Egoismus regiert. Das Politische ist tot. Selbst die terroristische Bedrohung unserer Gesellschaft scheint daran nichts zu ändern. Kein Ruck.

Die zweit- und drittplatzierten Werte machen die Sache nicht besser: Erfolg ist ohnehin die Krone jedes Egotrips und Freiheit, so die Autoren der Studie, sei hier „weniger globalpolitisch definiert als eher im Sinne von Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von Institutionen“. Wohin man blickt: Eigensinn. Gemeinsinn nicht vorhanden.

So werden wir der Bedrohung durch den Terrorismus nicht beikommen. Nur als Gemeinwesen, nicht aber als unpolitischer Horde gesundheits-, geld- und glücksgieriger Individuen werden in diesem unserer Kultur erklärten Krieg bestehen können. Nur wenn wir unsere Kraft aus den geteilten Werten und Tugenden ziehen, auf denen unser Gemeinwesen gegründet ist, werden wir die passende Antwort auf den Terror finden: Humanität, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Rechtsstaatlichkeit, Liebe zum Menschen, zur Natur und zur Schönheit.

Wir müssen politischer werden. Wie müssen erkennen, dass wir alle eine Verantwortung für dieses Gemeinwesen haben. Wir haben lange genug „an uns gearbeitet“ und unserer körperlichen – zuweilen auch seelischen und spirituellen – Gesundheit gehuldigt. Das alles ist nichts wert, wenn es nicht dazu führt, dass wir in dieser Stunde zusammenrücken und an unserem Gemeinwesen arbeiten. Was muss noch alles passieren, bis dass ein Ruck durch Deutschland geht?!

Christoph Quarch

Dr. Christoph Quarch ist freischaffender Philosoph, Autor, Vortragender und Veranstalter philosophischer Reisen. www.christophquarch.de

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