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Ökodörfer – Lebensmodelle der Zukunft?

Thomas Rahn
Koch Martin in der Gemeinschaft Sulzbrunn |
Thomas Rahn

Geseko von Lüpke hat sich umgesehen

Alternative Lebensgemeinschaften gehen den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft schneller, sie gehen voraus. Geseko von Lüpke berichtet über Ökodörfer, die den Ausstieg aus der globalen Konsumkultur wagen, in die regionale Selbstversorgung gehen und eine neue Kultur schaffen.

Ökodorf-Bewohner glauben nicht daran, dass der westliche Kurs das Nonplusultra menschlicher Kultur ist. Sie sehen die Mängel und Gefahren des modernen Lebensstils, der nicht als Vorbild für den gesamten Globus taugt. Sie verstehen ihre Ökodörfer als ‚Entwicklungsprojekte für die industrielle Welt’. Robert Dreyfus, Gründer der Schweizer Gemeinschaft ‚Schweibenalp’, skizziert die durchaus politischen Eckpunkte:

„Prämisse eins: Es braucht einen Systemwechsel. Prämisse zwei: Der Systemwechsel wird in Modellen gelernt. Und Prämisse drei: nachhaltige Ökologie, nachhaltige gerechte Wirtschaft, ein freies transparentes Zusammenleben der Menschen untereinander. Und ein spirituelles Bewusstsein, dass diese vier Aspekte im Gleichmaß und verbunden miteinander entwickelt werden müssen – immer im Bewusstsein, dass wir eine globale Aufgabe haben, aber lokal handeln.“ 

Man will sein Leben vor Ort selbst in die Hand nehmen und die Probleme nicht länger an die Politiker delegieren. Man rauft sich zusammen, ringt nicht selten nächtelang um einen Konsens und stärkt sich in Freundschaft, Naturbezug und einer bunten, vielfältigen Spiritualität. Die ist tatsächlich multikulturell, transkonfessionell und manchmal kaum zu überblicken.

Hohe Lebensqualität bei niedrigerem Lebensstandard

Im Allgäuer Hügelland südlich von Kempten hat eine Gruppe eine alte Kurklinik rund um eine Jod-Heilquelle gekauft. Die Gemeinschaft Sulzbrunn bewirtschaftet das Gelände genossenschaftlich mit einer Biogärtnerei, einem Seminarhaus, Handwerksbetrieben, Büros und einem sozial-ökologischen Projekt, das Jugendliche ins Erwachsenleben begleitet. Kern der Vielfalt aber ist die innere Vielfalt an Werten und die Freiheit der inneren Orientierung, so sieht es Martin Nagler vom Aufsichtsrat der ‚Gemeinschaft Sulzbrunn‘.

„Die Vielfalt ist unsere Stärke, auch von unseren Hintergründen hier: Wir haben Landwirte, Handwerker, Intellektuelle, Therapeuten, politische Menschen! Das finde ich eine große Stärke, und dass wir nicht sagen ‘Ne: Sulzbrunn steht nur für das!’ Sondern dass hier alles sein kann und trotzdem alle gehört werden, es allen gut geht und viele Dinge nebeneinanderstehen können.“

Gemeinschaft Sulzbrunn 2020, Foto: Thomas Rahn

Da versuchen Gemeinschaften immer wieder die Quadratur des Kreises: Das Ideal der individuellen Unabhängigkeit wird im Rahmen der Interessen der Gruppe gesucht. Die Gemeinschaft soll das Potenzial des Einzelnen erst richtig zur Entfaltung bringen. Hohe Lebensqualität ist angestrebt, obwohl der Lebensstandard deutlich zurückgefahren wird. Man will politisch engagiert und zugleich in einer freien Spiritualität gut verwurzelt sein. 

Gemeinschaftliches Leben schubst den Einzelnen dabei in seine ureigenen Themen, Prozesse und Muster. Und will zugleich ein Gefäß anbieten, um diese Wachstumsbewegung des Individuums zu halten. Denn beides soll wachsen: der Einzelne und die Gemeinschaft. Und das Prädikat ‚Öko‘ will sagen: nicht auf Kosten der Welt!

Da geht es um mehr als den biologischen Kohlkopf, Kompostklos oder die neueste Solartechnik. Man will nicht nur anders leben, sondern auch anders denken und wahrnehmen. Es ist die Suche nach einem neuen Weltbild und einer Kultur, die langfristig überlebensfähig ist. Das kann manchmal auch etwas Missionarisches bekommen, sagt der Soziologe und Gemeinschaftsforscher Marcus Andreas, der die Ökodorf-Bewegung wissenschaftlich untersucht.

„Es ist natürlich ein großer Anspruch, dass ein Dorf ein Modell für die Welt ist. Man verfängt sich leicht in dem Anspruch, andere müssen es so nachmachen. Aber an diesen Orten wird auch gerungen. Das Tolle an ihnen ist, dass sie es einfach wirklich tun! Und sie zeigen auch, dass es mehr braucht als diese klassische Nachhaltigkeitsdiskussion, es braucht auch die Verbindung im eigenem Leben, in der Kultur.“

Ausstieg aus der globalen Konsumkultur

In solchen Gemeinschaften werden nicht nur technische Lösungen für weniger Energieverbrauch gesucht, sondern auch über Ziele nachgedacht, die über Profit, Wachstum und Konkurrenz hinausgehen. Da wird anerkannt, dass ein ‚enkeltauglicher’ Umgang mit der Schöpfung eben auch ganz andere Wertehaltungen braucht. So sieht es auch Wolfram Nolte, früher Herausgeber des Eurotopia-Projekte-Verzeichnisses, das alle Gemeinschaften Europas vorstellt:

„Gemeinschaft ist ein geistiger Begriff für eine ganz andere Stellung zur Welt, dieses tiefe innere Gefühl, dass ich verbunden bin mit den Pflanzen, den Tieren, den Menschen. Wir erleben uns normalerweise als abgespaltener Teil, der auf Teufel komm raus versucht, auf seine Kosten zu kommen. Was wir lernen müssen, ist eben wieder gemeinschaftlich zu denken und Verantwortung zu übernehmen für andere.“ 

Was im Großen verloren wurde, soll nun im Kleinen wieder Gemeingut werden. In diesen ‚Gemeinschaften für die Zukunft’, wird also Zukunftsfähigkeit geübt.

Was aus dieser Haltung entstehen kann, ist viel: andere Wohnformen, die nicht auf Abgrenzung setzen, sondern auf ein Miteinander. Andere zwischenmenschliche Beziehungen, in denen es nicht um Konkurrenz und Besitz geht, sondern um Freiheit und gegenseitige Förderung. Ein Arbeitsleben, das dem Menschen dient und nicht dem Profit. Ein Ausstieg aus der globalen Konsumkultur und der Einstieg in regionale Selbstversorgung. Ein Umgang mit Ressourcen, der die Rechte kommender Generationen ernst nimmt.

Die Gemeinschaftsbewegung wächst, fast wöchentlich kommt es zu Neugründungen solcher Initiativen. Und immer mehr Menschen öffnen sich dafür, sind neugierig und suchen nach Anschluss. Die ersten Gemeinschaften wurden vor einem halben Jahrhundert nach der Studentenrevolte von 1968 gegründet. Die Bewegung ist in die Jahre gekommen, aber auch erwachsen geworden – und sie trifft mit ihren Erfahrungen immer öfter auf Neugier, Zustimmung und Interesse, auch in der Politik.

Gemeinschaften als Rettungsboote für den Wandel

Was einstmals wie ‚Weltflucht‘ erschien und belächelt wurde als Aussteiger-Romantik hat sich verändert. Ein Nischen-Phänomen sind alternative Gemeinschaften nach wie vor. Aber sie werden heute vom Mainstream langsam tatsächlich als Modell verstanden, erforscht und anerkannt, sagt die Gemeinschaftsforscherin und Soziologin Iris Kunze vom Zentrum für Globalen Wandel und Nachhaltigkeit der Universität Wien:

In Sulzbrunn wird gemeinsam gegessen. Foto: Thomas Rahn

„Gemeinschaften können Rettungsboote für den Wandel sein. Gemeinschaften sind ganz konzentrierte Orte sozialer Innovationen, weil sie überhaupt die Möglichkeit bieten, dass Menschen die Erfahrung machen, gemeinsam zu leben, zu wohnen, zu arbeiten und das Miteinander zu verschränken. Und auch entstehen einzelne soziale Innovationen aus den Gemeinschaften heraus, wie zum Beispiel verschiedene Methoden der Teamarbeit, wie man ökonomisch miteinander wirtschaftet und verschiedene Formen der solidarischen Ökonomie. Das sind die Keimzellen dafür, dass etwas Neues entstehen kann.“

Keimzellen für das Neue. Manchmal – um bei Metaphern zu bleiben – sind daraus auch schon zarte Pflanzen und junge stabile Bäume gewachsen. Das Fazit lautet: Ökodörfer und alternative Lebensgemeinschaften gehen den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft schneller, sie gehen voraus.

Im Zusammenleben zeigt sich: Es funktioniert, mit weniger Ressourcen auszukommen, Verzicht auf Luxus und Konsum kann Spaß machen, denn gemeinsam geht es leichter, das eigentlich Unvermeidliche zu tun. Die Dorfbewohner bieten Lösungen an, von denen auch die konventionelle Gesellschaft lernen kann. Es wird sich aber erst noch zeigen, ob diese andere Lebensform tatsächlich unsere Zukunft sein wird.

Dr. Geseko von Lüpke ist freier Journalist und Autor von Publikationen über Naturwissenschaft, nachhaltige Zukunftsgestaltung und ökologische Ethik.

 

 

 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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