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Pearls before breakfast

Foto: privat
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Philosophische Kolumne: Ein Konzert für alle Sinne

Im Jahr 2007 spielte ein junger Musiker in einer Washingtoner U-Bahn-Station morgens um kurz vor acht auf seiner Geige. Bach – mitten in der Rushhour. Die meisten Menschen eilten vorbei, einige hielten nur kurz an oder warfen im Vorüberhasten ein paar Münzen in seinen Geigenkasten.

Mütter zogen ihre Kinder in Richtung Ausgang und am Ende hatte der Musiker ein einstündiges Konzert gegeben und gerade einmal 32Dollar eingenommen. Nur weniger Tage zuvor hatte er dieselben Stücke in Boston gespielt, vor ausverkauftem Haus bei Ticketpreisen von über 100 Dollar. Der Geiger war Joshua Bell, einer der berühmtesten US-Violinisten weltweilt und sein Konzert an diesem ungewöhnlichen Ort ein Experiment der Washington Post. Was aber folgt aus diesem Morgen in der Washingtoner U-Bahn?

Sind wir alle zu sehr in Eile, um das Können eines Meistermusikers zu erkennen oder erkennen wir es nur, wenn es im richtigen Rahmen stattfindet, auf Plakaten angekündigt, das uns mit dem notwendigen Wissen versorgt, das uns sonst vielleicht fehlt, um die Güte eines Konzerts, die Qualität von Kunst oder die Tiefe besonderer Schönheit zu erkennen?

Die Frage ist doch, ob wir sie erkennen, nur weil wir 100 Dollar für eine Eintrittskarte bezahlt haben und beim Zuhören ein Abendkleid oder einen dunklen Anzug tragen – das darf bezweifelt werden. Ist es also wirklich die Unachtsamkeit und Hektik einer Zeit, die keinen Sinn mehr für musikalische Schönheit hat oder braucht gerade große Schönheit die notwendige Fähigkeit ihres Betrachters, sie als das zu erkennen, was sie ist?

Als eine besondere schöpferische und stimmige Störung des Gewohnten, des Normalen, die uns manchmal gerade dann trifft, wenn sie sich ereignet, ohne dass wir uns auf sie vorbereiten konnten, ohne dass wir Informationen und Fakten zusammentragen konnten, um etwas erklärbar zu machen, das manchmal ohne Worte am schönste bleibt.

Wahrscheinlich liegt die Antwort irgendwo im so oft bemühten Dazwischen, aber wesentlich ist, dass es auf sehr Vieles anzukommen scheint. Eine Form der Meisterschaft, einen Ort, der ihr einen Rahmen gibt und ein offenes Ohr und Auge eines Zuschauers, der fähig ist, diese Meisterschaft anzuerkennen – nur so findet eine Beziehung tatsächlich statt, kann eine Form der Resonanz möglich werden.

In Fall von Joshua Bell war die „Meisterschaft“ ohne Frage gegeben, der Rahmen weniger, auch wenn ein solcher Rahmen nicht zwingend ein Opernhaus sein muss, es kann eine Schule, ein Park oder ein Wohnzimmer sein – oder aber ein Rahmen, den wir selbst mitbringen, die besagte Fähigkeit, die uns das verstehen lässt, was sich da vor unseren Augen und Ohren abspielt.

Diese Fähigkeit braucht kein Expertenwissen, sondern einen Sinn für das, was über das „Gewöhnliche“ hinausgeht, eine innere Gewissheit, die uns verstehen lässt, worin die Qualität mancher Phänomene ihren Ursprung hat, selbst wenn ihr Ausdruck an der Oberfläche wenig pompös oder glänzend daher kommt.

Und dabei müssen wir keine internationalen Musiker bemühen, diese Experimente lassen sich auch ohne mediale Begleitung renommierter Zeitungen durchführen und beginnen meist mit der Frage, was wir für „schön“, für „bedeutsam“ – für „erhaben“ oder schlicht für „gut“ halten und warum. Wovon würden wir uns auf dem Weg zur Arbeit abhalten lassen, was wäre ein Anlass, der uns staunend oder tief beeindruckt das stehen und liegen lässt, was wir gerade zu tun im Begriff waren und was genau bringen wir in einem solchen Augenblick mit, damit wir uns auf eine solche Weise berühren lassen können?

Der reine Appell an die derzeit so begehrte Achtsamkeit wird nicht reichen, denn auch wenn wir noch so achtsam sind, können wir nicht erkennen, was wir nicht kennen oder zumindest erahnen. Erst wenn wir uns selbst für das öffnen, und uns berühren lassen wollen, entsteht ein Rahmen für das, worin sich Schönheit eröffnen kann. Wir selbst bieten den Ausgangspunkt für das, was bedeutsam und vielleicht sogar tiefe Schönheit werden kann – und je mehr wir sehen und hören können, desto mehr wird sie sich entfalten.

Joshua Bell hat 2014 ein weiteres Konzert in derselben U-Bahn Station gegeben, diesmal in Begleitung verschiedener junger Musiker auf einer kleinen provisorischen Bühne und – ein weiterer wichtiger Unterschied: dieses Konzert war angekündigt worden, es kamen nicht nur Menschen, die eigentlich zur Arbeit fahren, sondern Menschen, die Musik hören wollten – und machten die U-Bahn Station dadurch zu einem anderen Ort.

Manchmal muss man gerade kein Experte sein, sondern nur wissen, wo sich Können und Schönheit begegnen, dann wird durch das Wissen der Menschen, die diese Begegnung genießen, auch ein ungewohnter Rahmen zu einem Ort, in dem sie strahlen und Menschen berühren kann, die eigentlich nur die nächste U-Bahn nehmen wollten.

Ina Schmidt, 23. November 2017

 

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