Warum kritischer Abstand wichtig ist
In einem Krieg wird akzeptiert, dass die Parteien Propaganda betreiben. Benno Nietzel, Professor für Zeitgeschichte, rät daher, “nicht auf alles aufzuspringen, was man in den Medien liest und hört”. Es brauche bewusste Anstrengung, um ein ganzheitlicheres Bild der Lage zu bekommen.
Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, besagt ein Sprichwort. Bei genauerem Hinsehen würden wir wohl weder dem einem noch dem anderen zustimmen. Denn sowohl romantische Beziehungen als auch Kriege folgen bestimmten Regeln.
Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert einen Krieg so: „Krieg bezeichnet einen organisierten, mit Waffen gewaltsam ausgetragenen Konflikt zwischen Staaten“.i Entsprechend überrascht es nicht, dass in westlichen Medien die Vorgänge in der Ukraine als Krieg bezeichnet werden.
Die russische Regierung nutzt in der Kommunikation gegenüber den Truppen und der Bevölkerung das Wort Zov, das Ruf bedeutet. Wer diesem Ruf auch ideologisch folgt, trägt das Z stolz auf der Kleidung. Offiziell wird innerhalb des russischen Militärs auch der Begriff der Spezialoperation bemüht. Von Krieg zu sprechen ist dagegen untersagt. Propaganda ist eine Frage der Wortwahl.
Kommunikation mit Hintergedanken
„Propaganda kann ganz unterschiedliche Formen annehmen“, erklärt Benno Nietzel Professor für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum und Propagandaforscher. „Man kann sie nicht eindeutig abgrenzen von politischrm Rede. Der Kontext entscheidet darüber, was Propaganda ist oder als Propaganda aufgefasst wird.“
Immerhin lässt sich sagen: Propaganda beruht zumeist auf systematischer, gezielter Planung und folgt einer klaren Absicht, einem bestimmten Ziel. Aber: „Propaganda kann überall auftauchen“, so Nietzel.
Selbst eine objektive Beschreibung der Geschehnisse kann unter Umständen eine propagandistische Funktion haben. Eindeutiger wird es, wenn es sich um bewusste Manipulation und Desinformation mit dem Ziel handelt, die Meinung und Wahrnehmung zu beeinflussen.
„Propaganda kann also alles mögliche sein“, ergänzt Nietzel, „und kann ihre Erscheinungsformen auch historisch verändern.“ Für die meisten Menschen sei Propaganda ein negativ besetztes Wort – und das mache es schwer, über Propaganda zu sprechen. In der Regel werde das Label „Propaganda“ eher vergeben, um eine polemische Absicht zu unterstellen und Äußerungen Anderer zu diskreditieren.
„Aber in einem Krieg akzeptieren wir, dass die einzelnen Parteien Propaganda betreiben. In diesem Kontext erscheint uns das normal und legitim“, erklärt Nietzel. „Allerdings ist der Kontext wichtig.“ Denn je nach Zusammenhang muss Propaganda nicht immer eine negative Wirkung haben, es kann auch Propaganda für gute Ziele und Werte geben.
Der Krieg in den sozialen Medien
So habe der ukrainische Präsident Selenskyj als Medienprofi eine neue Art der Inszenierung als Führungspersönlichkeit gefunden. Durch seine Affinität zu sozialen Medien nutzt er diese strategisch und oft mit großer symbolischer Wirkung. „Putin tritt eher steif und distanziert auf und repräsentiert ein russisches Herrschaftskonzept, in dem der Führer dem normalen Volk entrückt ist. Selenskyj dagegen zeigt sich bewusst bürgernah, als ebenso vom Krieg Betroffener.
Er zeigt, dass er nicht geflohen ist, sondern sich in der umlagerten Hauptstadt befindet, er steht vor zerstörten Gebäuden, in Menschenmengen, besucht Orte des Kriegsgeschehens und zeigt seinem Volk, dass er mitten unter ihnen ist. Doch auch die Bevölkerung selbst kann über die sozialen Medien viel direkter Bilder des Krieges nach außen vermitteln.”
Durch die Social Media hat sich politische Kommunikation sehr verändert. Seit Beginn des Ukrainekriegs ließe sich ein qualitativer Sprung im Vergleich zu früheren Kriegen beobachten:
„Früher war Propaganda eher ein Top-down-Prozess in den Händen von staatlichen Behörden. Es gab einen Sender, der der breiten Bevölkerung Informationen und Botschaften vermittelt.“ Durch die sozialen Medien habe sich die gesamte Dynamik verändert.
„Jede Person kann ein kleiner Propagandist werden“, sagt Nietzel. „Die alten Muster funktionieren nur noch bedingt. Das russische Festhalten an alten Propaganda-Methoden scheint antiquiert, während in den Social Media die offiziellen Botschaften weltweit kommentiert, veralbert, umgedreht, umgedeutet oder auch verstärkt werden.“
Propaganda schafft Realität
Während die staatliche Propaganda in Russland eher klassische Mittel nutzt, gibt es auch in Russland Influencer, die die staatliche Linie vertreten und vor allem für eine jüngere Zielgruppe aufbereiten. Doch hüben wie drüben ist nicht immer klar, woher die Bilder stammen und welchen Wahrheitsgehalt die geposteten Beiträge haben.
Deshalb rät Nietzel dazu, mit einer gesunden Skepsis an jede Kriegsberichterstattung heranzugehen: „Man sollte nicht auf alles aufspringen, was man in den Medien sieht. Oft ordnen wir Medieninhalte in das ein, was wir ohnehin schon glauben.“ Grundsätzlich und insbesondere in Kriegszeiten sei ein reflektiertes Medienverhalten wichtig.
„Russland will aber gar nicht primär überzeugen – sondern klare Vorgaben vermitteln“, so Nietzel. Entsprechend kann Propaganda verschiedene Ziele haben, etwa Konformität zu erzwingen, bestimmte Sprechweisen zu etablieren und so mehr oder weniger subtil Kontrolle auszuüben, wo ein Überzeugen der Menschen nicht möglich scheint.
„Mit Propaganda versuchen manche Staaten, die Realität zu definieren“, erklärt Nietzel. Und wer auf seiner Sicht auf die Realität besteht, werde im Zweifelsfall bestraft.
„Medien im Allgemeinen und Propaganda im Speziellen funktionieren besonders gut, wenn sie schon vorhandene Ansichten und Einstellungen bestärken“, erklärt Nietzel die Hintergründe. „Alles, was einen Widerspruch aufbaut, gefällt uns erstmal nicht. Dann wird es entweder ignoriert oder anders eingeordnet und beispielsweise als Fälschung oder Fake News eingeordnet.“
So bleibt die wichtigste Funktion von Propaganda, dass sie Komplexität reduziert: Mit den passenden Bildern kann ein bestehendes Weltbild unterfüttert werden und die Kriegsparteien in zwei Lager eingeteilt werden: in die Guten und in die Bösen.
Selbst denken und doch nicht allein dastehen
Die Kognitionspsychologie erforscht seit Jahrzehnten, wie wir die Komplexität der Welt zu verarbeiten versuchen. Und dabei bedienen wir uns alle gelegentlich unbewusster kognitiver Verzerrungen. So drückt beispielsweise die Proportionality Bias (Verzerrung der Proportionalität) unsere Tendenz aus, dass wir hinter großen Ereignissen auch große Ursachen vermuten.
Diese kognitive Verzerrung liegt wohl auch den meisten Verschwörungstheorien zugrunde, etwa dass die Corona-Pandemie, die weltweite Auswirkungen hatte, auf eine ebenfalls weltweite Verschwörung zurückzuführen sei.ii
Und auch als im November 2022 eine Rakete in Polen einschlug und zwei Menschen tötete, ereignete sich eine kognitive Verzerrung bei der sofortigen Einordnung der Ereignisse: Die Intentionality Bias (Absichtsverzerrung) sorgt dafür, dass wir anderen bei ihren Handlungen grundsätzlich Absicht unterstellen. So glaubten viele Menschen unmittelbar daran, dass es sich um russische Raketen handeln müsse.
Entsprechende Spekulationen fanden sich bereits wenige Minuten nach dem Einschlag in den Medien. Dass die Rakete schlicht ihr Ziel verfehlt hatte, schien intuitiv gar keine Option zu sein. Und hier kam sofort auch Propaganda ins Spiel „Die Ukraine behauptete anfangs steif und fest, es seien russische Raketen“, erinnert sich Nietzel. Doch am Ende stellte sich heraus, dass es eine ukrainische Rakete war. Propaganda findet also auf allen Seiten statt.
„Die ukrainische Regierung hatte den Vorfall zunächst schon in die Richtung gerückt“, sagt Nietzel. „Bevor geklärt wurde, wessen Rakete das war, gab es schon feste Aussagen seitens der Ukraine.“ Das sei allerdings auch ein Problem der medialen Aufbereitung, denn vor allem in den sozialen Medien sprangen viele Menschen sofort auf diesen Zug auf.
Haben wir die Chance, die Realität zu erkennen?
Nietzel glaubt jedoch, dass Menschen generell nicht per se anfällig für Propaganda sind: „Menschen neigen dazu, sich ihr eigenes Denken zu bewahren und sind nicht von außen ohne weiteres steuerbar.“ Dadurch habe es Propaganda schwer, unser Denken grundlegend zu beeinflussen oder gar zu ändern.
In der Kognitionspsychologie nennt sich die Confirmation Bias oder auch Bestätigungsfehler: Wir neigen dazu, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie unsere Erwartungen und unser Weltbild entsprechen.
Wenn wir allerdings schon mit einem Land, einer Ideologie oder einer Theorie sympathisieren, rennt Propaganda offene Türen ein. Was vor allem in Kriegszeiten hilfreich bleibt, ist ein gewisser kritischer Abstand zu Medieninhalten – und zur eigenen Haltung.
Philosophisch ist Propaganda also auch ein erkenntnistheoretisches Problem: Haben wir in Zeiten von demokratisierten Massenmedien, von Fake News und partieller Zensur überhaupt eine Chance, die Realität zu erkennen? „Das große Problem ist, dass man Propaganda nicht klar von anderer Kommunikation abgrenzen kann“, sagt Nietzel.
Wer sich nicht bewusst anstrengt, ein ganzheitlicheres Bild zu bekommen, bleibt weiterhin in seiner Blase des Confirmation Bias – und sieht seine bereits bestehende Meinung wieder bestätigt. Heute müsste Platon seinem Höhlengleichnis wohl die noch die medialen Abbilder der Dinge an sich hinzufügen.
Ines Eckermann
i https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17756/krieg/
ii https://journals.plos.org/plosone/article/file?id=10.1371/journal.pone.0124125&type=printable
Ines Maria Eckermann machte einen Doktor in Philosophie. Nebenbei heuerte sie als freie Mitarbeiterin bei verschiedenen Medien an und engagiert sich im Umweltschutz.