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Kirchengemeinde erhält Impulse durch junge Flüchtlinge

Eine evangelische Gemeinde in Hamburg kümmert sich um rund 40 junge geflüchtete Männer aus Somalia, Eritrea, Afghanistan und Syrien. Aus Nächstenliebe? Für Pastor Ralf Böhme ist es einfach nur die Neugier und Freude an den Menschen.

„In meinem Büro in der Gemeinde können wir uns nicht treffen, dort leben mittlerweile junge Männer aus Somalia“, erläutert mir Ralf Böhme, Pastor der evangelisch-lutherischen Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde in Hamburg-Harburg, als ich mit ihm einen Gesprächstermin vereinbaren möchte.
Neun Männer aus Eritrea, Somalia und Syrien sind mittlerweile durch Unterstützung der Gemeinde in der Umgebung der Kirche untergebracht, manche in den Gemeindealltag eingebunden. 25 Mitarbeiter sind haupt- und ehrenamtlich aktiv, um die Flüchtlinge zu betreuen. Viele der Ehrenamtlichen haben erst über die Flüchtlingshilfe zur Kirchenarbeit gefunden.
Die Frage nach seiner Motivation beantwortet der engagierte Pastor spontan. Die Lust auf Begegnung mit andere Kulturen, seine Neugier gegenüber jungen Menschen und seine Freude daran, sich mit ihnen auszutauschen und ihnen eine Stütze zu sein – sind für ihn die Antriebskräfte. Große Worte wie Nächstenliebe oder Barmherzigkeit möchte er da gar nicht in den Mund nehmen.

Kirche als größere Gemeinschaft verstehen

Am 19. Juni 2015 wird in Hamburg-Harburg die Erstversorgungeinrichtung 8 (EVE 8) für Flüchtlinge in der Nöldekestraße eröffnet. Mittlerweile sind hier 71 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge ab 14 Jahren untergebracht. Die Unterkunft ist keine zehn Gehminuten von der Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde entfernt.
Der Standort der Unterkunft war von Anfang an umstritten. Denn ebenfalls nur wenige Schritte entfernt ist eine Moschee, die als Anlaufpunkt für Salafisten gilt und unter der Beobachtung des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz steht.
„Der Gefahr, dass die Jugendlichen in den Sog radikaler Strömungen geraten könnten, mussten sich alle bewusst gewesen sein. Wir als Kirchengemeinde waren uns schnell einig – zu einer gelungenen Integration der Jugendlichen wollen wir unseren Beitrag leisten“, erklärt Ralf Böhme. „Unser Ziel war und ist es, dass viele lebendige Beziehungen zwischen Menschen aus unserer Gemeinde und den Jungs entstehen.“
Schon kurz nach der Eröffnung fanden sich die ersten jungen Männer aus der EVE 8 in der Paul-Gerhardt-Gemeinde ein, zu einem Musikprojekt, das Pastor Böhme aus seiner persönlichen Musik-Leidenschaft heraus selbst anleitet. Gitarren, Bass, Cajón – durch Spenden wurde der Musikraum der Gemeinde großzügig ausgestattet. So konnten sich die Jugendlichen entscheiden, welches Instrument sie lernen wollen. Schon bald wurden erste Versuche im Zusammenspielen gemacht, inzwischen hat ein erster Bandauftritt stattgefunden.
Das Projekt wird erfolgreich angenommen, die jungen Männer fassen in der Gemeinde Fuß. Manche nehmen auch an Gottesdiensten teil, helfen gern bei den Vorbereitungen oder beim Einsammeln der Kollekte.
Pastor- BöhmeTrotzdem sei ihr Glaube selten Thema berichtet der Pastor: „Ich weiß oft gar nicht, welcher Religion sie angehören – bei einigen ahne ich vom Namen, ob sie Christen oder Muslime sind.
So verrückt es auch klingen mag, bei allen erleben wir eine vorbehaltlose Offenheit gegenüber der Kirche als Gemeinschaft“, erklärt er. „Mit derselben Offenheit wollen wir den Jugendlichen begegnen. Mission ist für uns kein Thema. Umso mehr Respekt im Umgang mit Menschen anderen Glaubens.“
Nach dem erfolgreichen Start des Musikprojekts initiiert ein Team aus Haupt- und Ehrenamtlichen weitere Aktionen und Projekte – unter anderem das wöchentliche Deutsch-Café in den Gemeinderäumen, die Begleitung bei Behördengängen und eine gemeinsame Weihnachtsfeier.

“Wir haben es uns auf unserem Wohlfühlpolster bequem gemacht”

In allen Gesprächen wird den Mitarbeitern der Kirche deutlich, welche Angst die Jungs vor ihrem 18. Geburtstag haben. Mit der Volljährigkeit haben sie kein Anrecht mehr auf die besondere Unterstützung, die ihnen als Minderjährige zusteht. Von einem Tag auf dem anderen müssen sie die relativ behütete EVE 8 verlassen, in eine geregelte Folgeeinrichtung einziehen und wieder von vorne anfangen.
Die bereits begonnene Integration und das bestehende soziale Leben – und damit auch die Arbeit der Flüchtlingshilfe der Gemeinde – wären hinfällig. So ergibt sich das nächste große Projekt: Die Gemeinde kümmert sich um langfristige und lebenswerte Unterkünfte, in denen die jungen Männer nach ihrem 18. Geburtstag ein neues Zuhause finden können.
Mittlerweile sind neun Jugendliche untergebracht: in einer Wohngemeinschaft, in einer gemeinsam renovierten Wohnung, in einer privaten Familie und eben in den Büros der Gemeinde. Diese liegen in einer kleinen Einliegerwohnung mit Küche und sanitären Anlagen. Dafür wurde das Pastoren-Büro kurzerhand in das private Eigenheim der Familie Böhme verlegt – Platz musste geschaffen, Sachen entsorgt werden.
Als Übergangslösung oder gar Belastung empfindet der 55-Jährige, der aus einer Pastorenfamilie kommt, die Situation trotzdem nicht. Bei den Erfahrungen der letzten Monate sei ihm deutlich geworden, auf was für einem Wohlfühlpolster wir es uns in den letzten Jahren bequem gemacht hätten: „Es geht oft viel mehr, als man bei sich selber und anderen für möglich hält “, so das Credo des Pastors. Das zu erfahren und zu erleben, hätte ihm viel bedeutet, erklärt er mir mit leuchtenden Augen.

Menschen abweisen wäre unterlassene Hilfeleistung

Grenzen erlebe er manchmal in seiner Zusammenarbeit mit den Behörden. Offiziell würde die private Unterbringung von der Stadt Hamburg gefördert, aber bei den Behördengängen treffen die Mitarbeiter der Flüchtlingshilfe auf überforderte Sachbearbeiter. Daher hat Böhme einen Brief an den Harburger Bürgermeister geschickt und um mehr Unterstützung seitens der Stadt gebeten – bisher blieb diese Bitte unbeantwortet.
Wie er selbst als Politiker agieren und entscheiden würde? „Der Schutz von Menschenleben wäre für mich der höchste Wert, höher als Wohlstand und Bequemlichkeit“, erklärt der Pastor nach einigem Nachdenken. „Die Grenzen dicht zu machen, ist doch schlichtweg unterlassene Hilfeleistung.“ Dass Politiker dies aus verschiedenen Gründen nicht aussprechen könnten oder wollten, kann er nachvollziehen. Aus genau diesen Gründen sei er selbst Pastor und nicht Politiker.
Vorbehalte gegenüber dem Engagement gab es auch in der Gemeinde. Einige Mitglieder haben Berührungsängste und sind unsicher, wie sie den jungen Männern begegnen sollen. Das Bild muslimischer Männer ist in den Medien ja nicht gerade positiv besetzt. „Traut euch, in den persönlichen Kontakt zu gehen, nehmt diese bereichernde Möglichkeit unserer Gemeinde wahr“, ermutigt der Pastor die Gläubigen. Möglichkeiten dazu gibt es zur Genüge – nach einem Besuch des Deutsch-Cafés überwand eine Frau ihre Skepsis. Die Jungs seien ja ganz niedlich, berichtete sie dem Pastor nach dem Besuch mit verschmitzten Augen.
Ralf Böhme ist auch bewusst, dass sie mit ihrer Arbeit nicht alle erreichen. In der EVE 8 gibt es natürlich auch schwierige Jugendliche, die kämen aber nicht zu den Projekten und interessierten sich nicht für die Angebote. „Wir erleben hier nur einen Ausschnitt der Realität,“ so Böhme.
Mit das Wichtigste an der engagierten Arbeit: eine Portion Distanz . Nach Fertigstellung der Wohngemeinschaft fing ein junger Somalier, der das beste Zimmer zugeteilt bekommen hatte, an, sich zu beschweren und aufzuregen. Er hätte gern ein Doppel- statt eines Einzelbettes. „Wir haben uns alle nur fassungslos angeschaut“, berichtet der Pastor von der Reaktion im Team.
Nach der tagelangen Arbeit, die Wohnung anzumieten, zu renovieren und zu möblieren, war dieser Kommentar den Mitarbeitern vollkommen unverständlich. Pastor Böhme setzt sich daraufhin mit dem Jungen auseinander und versucht ihm die Situation zu erklären – jedoch überlegt. „Die Jungs sind weder Freunde noch Familie für mich, sondern einfach junge Menschen, die ich in ihrer Entwicklung begleiten möchte. Für ihr Handeln sind sie am Ende selbst verantwortlich.“ Die Distanz hilft dem Pastor weiterzumachen – auch wenn es mal anders verläuft als erwartet. Auch der junge Somalier ist mittlerweile zufrieden mit seinem Zimmer in der multikulturellen Wohngemeinschaft in Hamburg-Harburg.
Cristina Grovu
Unterstützung bei der Unterbringung von jungen Männern im Hamburg gesucht
Die Paul-Gerhardt-Gemeinde sucht Unterstützung bei der Unterbringung von jungen Männern in Hamburg-Harburg und Umgebung. Das Team der Flüchtlingshilfe freut sich, wenn sich Patenfamilien finden, die junge Männer bei der Integration in Deutschland unterstützen. Das Netzwerk Ethik heute unterstützt die Gemeinde dabei. Wenn Sie gerne zu dem Projekt beitragen möchten, melden Sie sich gerne unter cristina.grovu@ethik-heute.org

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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