Ein gut recherchiertes Buch
Demokratie ist kein Selbstgänger, wir müssen immer wieder neu für sie kämpfen. Patrick Stegemann und Sören Musyal haben sich jahrelang undercover im rechten Netzmilieu bewegt. In diesem Buch dokumentieren sie ihre Recherchen: wie Rechtsextreme das Internet nutzen, um Menschen auch aus der Mitte der Gesellschaft an sich zu binden und Hass zu verbreiten.
Es ist eine gefährliche Strategie, die die Autoren in diesem Buch enttarnen: Rechtsextreme Gruppen nutzen das Internet, um ein größeres Publikum außerhalb ihrer Szene anzusprechen und gezielt an sich zu binden. Da viele Menschen Rassismus und Gewalt abschreckt, werden sie zunächst mit Inhalten gelockt, die nicht explizit extremistisch sind. Wachsamkeit ist geboten, auch in Corona-Zeiten, wenn Rechtsextreme z.B. Demonstrationen für Grundrechte unterwandern.
Die Autoren Patrick Stegemann und Sören Musyal haben sich Jahre lang undercover im rechten Netzmilieu bewegt, gelesen, mitgepostet und Kontakte aufgebaut. Nur so konnte es gelingen, in die engeren Kreise vorzudringen, etwa vom Identitären Martin Sellner („Willkommen im Infokrieg“) und anderen Protagonisten der Szene.
Mit diesem hervorragend recherchierten Buch dokumentieren sie nicht nur, was die Inhalte rechten Gedankenguts sind und wie schnell sie sich im Internet verbreiten, sondern auch, welche Strategien die Rechtsextremen verfolgen. Die Autoren gehen zurück zu den Anfängen in der Gamerszene und der Alt-Right-Bewegung und zeichnen die Entwicklung der Radikalisierung nach.
Immer wieder wird versucht, in die Mitte der Gesellschaft hineinzuwirken. Zum Beispiel werden mit kleinen Kochshows auf youtube, Musik-Kanälen und unterhaltenden Angeboten normale Bürgerinnen und Bürger angezogen. Nett aussehende Menschen lächeln auf Instagram und plaudern aus ihrem Alltag. Doch dahinter steckt knallhartes politisches „Influencing“.
Zuerst kommen nur kleine Grenzüberschreitungen, z. B. Witze gegen Ausländer, deftige Breitseiten gegen das demokratische „Establishment“. Wenn das Vertrauen aufgebaut ist, geht die Radikalisierung los: mit gezielter Desinformation, der Verbreitung von Propaganda und Stimmungsmache gegen Politik und „Mainstream“. Gerade youtube gilt als „Rampe“ zur Radikalisierung und wird von den Rechten auch so aufgebaut.
Gegen die offene Gesellschaft
Manche Portale tarnen sich als journalistische Plattformen und bezeichnen sich zum Beispiel als „Nachrichtenportal“. Akteure verschaffen sich mit provozierenden Aussagen Gehör in den Print- und Fernsehmedien, die man eigentlich bekämpft. So gelingt es, Leute auf sich aufmerksam zu machen und auf die eigenen Internetseiten zu lotsen.
Die Rechtsextremen nutzen die bekannten sozialen Medien wie Youtube, Facebook, Twitter, Instagram. Wenn diese verfassungswidrige Inhalte löschen, wird umgeschwenkt auf Messenger-Dienste, wo man unbeobachtet krudes Gedankengut verbreiten kann. Threema und Telegram werden zum Beispiel genutzt, weil sie durch die Verschlüsselung so sicher sind. Und natürlich einschlägige Portale wie 4chan und 8chan.
Die Denkmuster sind immer die gleichen und lassen sich mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Ablehnung der offenen demokratischen Gesellschaft zusammenfassen, auch wenn teilweise etwas anderes behauptet wird. Antisemitismus, Hass auf Fremde, Rassismus, Frauenhass sind verbreitet. Gesprochen wird von „völkischer Graswurzelrevolution“ und dass man sich „Deutschland wieder zurückholen“ wolle.
Das Buch zu lesen ist kein Vergnügen. Umso mehr muss man zu schätzen wissen, was die Autoren auf sich genommen haben, um an die Informationen zu kommen. Allerdings ist Vorsicht geboten. Denn das Buch beschäftigt sich nicht mit der Frage, wie groß der politische Einfluss der rechtsextremen Gruppen wirklich ist. Was heißt es, wenn rechte Influencer soundsoviele Follower haben oder youtube-Videos 90.000 Mal geklickt werden? Wie ist das zu bewerten? Kann Demokratie damit leben, dass an den Rändern rechtsradikale Meinungen vorherrschen?
Und doch ist das Buch eine Mahnung: Die Rechtsextremen sind durch die sozialen Medien gestärkt worden; unter dem Radar der Öffentlichkeit breitet sich ihr demokratiefeindliches Gedankengut aus. Wo es keine klassischen Gatekeeper gibt, also Journalisten, die überprüfen und gegenchecken, bevor sie etwas veröffentlichen, da gibt es kein Halten mehr für die Verbreitung von Falschmeldungen, Verschwörungstheorien und verfassungswidriger Propaganda.
Ein Phänomen spielt den Rechtsextremen besonders in die Hände, wie die Autoren schreiben: Aus Studien ist bekannt, dass Nutzer vor allem Posts teilen, die negative Gefühle auslösen. Das wird ausgenutzt, Emotionen sind der Treibstoff rechter Hetzer. Sie schüren und organisieren Hass. Hier sind wir alle gefordert, aufzupassen und uns vor Manipulation zu schützen. Und wer sich wirklich für Demokratie engagieren möchte, sollte genau schauen, welchen Gruppen und Organisationen er vertrauen kann.
Birgit Stratmann
Patrick Stegemann, Sören Musyal, Die Rechte Mobilmachung. Wie radikale Netzaktivisten die Demokratie angreifen. Econ Verlag 2020