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Reparieren muss rentabel werden

Quality Stock Arts/ shutterstock.com
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Warum so viele Retouren vernichtet werden

Amazon vernichtet Retouren. Doch der eigentliche Skandal, so Professor Evi Hartmann: Es ist für den Handel billiger, Retouren zu verschrotten als zu reparieren. Auch die Verbraucher tragen Verantwortung: Gedankenlos geben sie Waren zurück. Die Autorin zeigt Wege aus der Wegwerf-Falle.

Amazon vernichtet Retouren – wie übrigens auch andere Online-Händler. Waren, die noch völlig brauchbar sind, werden tonnenweise auf den Müll geschmissen. Jahr für Jahr. In einer Zeit, in der wir wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit intensiv über Nachhaltigkeit und Ressourcen-Effizienz diskutieren, in der Second Hand-Läden eine Blüte sondergleichen erleben, in der alle von der Wiederverwertbarkeit von kostbaren Rohstoffen reden und die Armut immer noch nicht besiegt ist – da werden noch tadellos brauchbare Sachen einfach weggeworfen?

Die Empörung ist groß. Doch warum erst jetzt? Rücksendungen werden nicht erst seit dem neuesten „Skandal“ vernichtet, sondern eigentlich schon immer. Seit es Kataloge gibt, aus denen man sich etwas Schönes bestellen kann. Und nicht nur der Versandhandel vernichtet, sondern auch der stationäre Handel.

Ganz gleich, ob ich zum Beispiel mein neues Handy online oder beim Laden um die Ecke kaufe: Wenn ich auf dem Display des neuen, voll funktionsfähigen Smartphones einen Transportschaden, einen kleinen Kratzer entdecke und es deshalb zurückgebe, wird das Gerät anstandslos zurückgenommen.

Weder Online-Shop noch der Laden nebenan reparieren das neue Alte, sondern schlachten seinen Müll auf Sekundärrohstoffe aus. Warum bloß? Das Handy ist doch noch gut! Es hätte noch voll und ganz seinen Zweck erfüllen können. Ja? Nein. Denn Funktion ist nicht gleich Zweck. Nicht für uns.

Wer kauft B- Ware?

Für uns muss in der Regel alles brandneu sein, hoch modern, mit vielen schönen neuen Features, spottbillig und vor allem einwandfrei. Handy mit winzigem Kratzer auf dem Display? Unverkäuflich!

Noch voll funktionsfähige Dinge mit kleinen Schönheitsfehlern werden zwar als 1B-Ware bei Who’s perfect?, in Sonderposten-Outlets und bei Ebay-Kleinanzeigen gehandelt. Doch das sind relativ kleine Mengen. Die großen Händler bekommen die weitaus umfangreichere Retouren-Lawine selbst mit heftigsten Rabatten und Warehouse Deals nicht einmal ansatzweise losgeschlagen.

Unsere Empörung wendet sich gegen uns selbst: Wir empören uns über die Vernichtung von Retouren, weigern uns aber in großer Zahl, die Retouren in ausreichender Menge zu kaufen. Das ist ein Widerspruch, der selten zu beschämtem Schweigen führt. Viel häufiger heizt er die Empörung noch an: „Warum ist das unser Problem? Das ist doch das Problem der Hersteller und Händler!“

Gute Idee, leider nicht systemkonform: Wir leben in einer Marktwirtschaft. Und Märkte funktionieren durch das Zusammenspiel von Anbietern und Nachfragern. Klinkt sich einer der beiden Partner aus („Nicht mein Problem!“), bricht der Marktmechanismus zusammen – und es werden Retouren vernichtet. Oder zumindest Handys. Bei anderen Produkten sind wir schon weiter. Zum Beispiel beim Obst.

Bei Aldi (Süd) habe ich jüngst Äpfel entdeckt, die noch vor kurzem (vom Händler zum Erzeuger) retourniert worden wären, weil sie nicht in die DIN-Norm für Äpfel passen. Jetzt werden sie unter dem Label „Krumme Dinger“ angeboten – und gekauft! Bei anderen Produkten halten wir uns weiter vornehm zurück, zum Beispiel beim erwähnten Handy.

Paradox: Reparieren ist teurer als Herstellen

Die Reparaturkosten eines retournierten Handys sind deutlich höher als die Herstellkosten eines neuen Gerätes. Weil die Handarbeit bei der Reparatur und und die Einzelbeschaffung von Ersatzteilen teuer ist. Am teuersten ist das Know-how des Monteurs: Wissen, was man wie reparieren muss.

Massenhaft Handys von einer weitgehend automatisierten Fertigung produzieren zu lassen, kostet viel weniger – pro Stück. Das machen die sogenannten Economies of Scale: Je höher die Stückzahl, desto geringer die Stückkosten (der/die BWL-Studierende spricht von der Fixkostendegression). Technisch ist das Wiederherstellen von Retouren problemlos möglich – aber wer kauft das reparierte Handy denn, wenn es 30 Prozent mehr kosten würde als ein neues?

Anders herum: Welcher Hersteller würde das teuer reparierte Handy zum selben Preis hergeben wie ein neues? Und dabei auf seinen Gewinn verzichten? Es ist oft sogar so, dass der Gewinn, den man am Markt mit reparierten Produkten erzielen kann, geringer ist als die Kosten der Reparatur. In kurzen Worten: Reparieren ist ein Minus-Geschäft, da zahlt irgendwer drauf. Wir nicht! Wir kaufen das dann einfach nicht. Und auch der Hersteller/Händler nicht: Der repariert es einfach nicht. Selbst der Staat hat was dagegen.

Steuern verhindern Reparaturen

Wenn ein Händler oder Hersteller Retouren sofort verschrottet und daraus bestenfalls Sekundärrohstoffe gewinnt, kann er die Retouren sofort abschreiben. Wenn er sie dagegen reparieren würde, erscheinen sie als Aktiva in seiner Bilanz und vergrößern seine Steuerlast! Das heißt: Auf etwas, das er viel schlechter verkaufen kann als ein neues Produkt, bezahlt er dann auch noch Steuern wie auf ein neues Produkt!

Zudem fallen Lagerhaltungskosten für die Retouren und die dafür nötigen Ersatzteile an. Kurz: der betriebswirtschaftliche Wahnsinn. Alles in allem ist es derzeit kein Skandal, sondern leider wirtschaftlich rational und „sinnvoll“, Retouren zu verschrotten. Das gilt, solange ein neuer Artikel billiger ist als ein reparierter und solange Verbraucher lieber etwas retournieren, anstatt es selber zu reparieren oder reparieren zu lassen. Eine üble Falle. Aus dieser Falle können und sollten wir ausbrechen. Indem wir es unrentabel machen, Retouren zu verschrotten.

Raus aus der Wegwerf-Falle

Wegwerfen würde tendenziell teurer und damit unwirtschaftlicher, wenn der Staat den Herstellern die Umwelt- und Nachhaltigkeitskosten ihrer Produkte anlasten würde. Denn diese Kosten sind bislang oft nicht drin in den Produkten. Bislang nicht enthalten sind zum Beispiel die horrenden Schäden, die ausgebeuteten Kindersklaven angetan werden, die im Kongo Kobalt für unsere Handys schürfen.

Der Staat könnte die Wiedergutmachung für den Kindesmissbrauch per Steuer draufschlagen. Dadurch würde es rentabler, beim alten Handy mit kleinem Kratzer das Display auszutauschen, anstatt teures Kobalt für ein neues Handy zu bestellen. Das ist das Prinzip der Welt, in der wir leben: Der Preis steuert Märkte. Und die Nachfrage, das heißt: wir.

Der zweite Ansatz neben dem Preis wäre die Eigenverantwortung des mündigen Konsumenten. Diesen Ansatz leben viele moralisch reifen Menschen bereits: Sie kaufen Second Hand. Sie sitzen in Reparatur-Cafés oder geben Dinge mit Bagatellschäden in Reparatur-Werkstätten. Wenn das nicht nur relativ wenige, sondern die vielzitierte große Masse machen würde, würden auch die Händler und Hersteller stärker in die Reparatur investieren; zum Beispiel selber Reparatur-Werkstätten in Kettenbetrieben eröffnen. Denn dann wäre Reparieren rentabel. Rentabilität steuert Märkte schneller und wirksamer als Shitstorms.

Soll Amazon Retouren verschenken?

Dem aufmerksamen Leser, der engagierten Leserin wird aufgefallen sein, dass ich hauptsächlich von Retouren rede, die repariert werden müss(t)en. Es gibt auch massenhaft andere: Passt nicht, gefällt nicht – wird zurückgesandt und auf den Müll geworfen. Das ist schon hart. Deshalb teilte sogar das sonst eher zurückhaltende Amazon mit: Man bemühe sich nach Kräften, Retouren weiterzuverkaufen oder zu spenden.

Der naive Zeitgenosse nimmt an, dass Spenden immer willkommen seien und in unbegrenzter Menge abgenommen werden: Irgendwer kann es doch immer gebrauchen! Leider ist das ein Irrtum. In der Regel haben auch und gerade Hilfsorganisationen, Ehrenamtliche und Sozialverbände sehr spezifische Bedürfnisse.

Da benötigt zum Beispiel ein bayerischer Sozialverband 30 Betten für einen fraglos wohltätigen Zweck. Bei einem Hamburger Versandhändler fallen zeitgleich (mehr als) 30 retournierte Matratzen (zu hart, zu weich) samt Bettzeug an, die aus besagten Gründen nicht wiederverkäuflich sind. Wunderbar! Ab damit nach Bayern! Womit? Und wer bezahlt die Fracht gen Süden? Der Sozialverband hat, logisch, das Geld nicht. Der Händler: dito. Das ist das eine.

Das andere ist: Beide wissen noch nicht einmal voneinander! Wir leben im Zeitalter der Big Data, aber eben (noch) nicht der Smart Data. Was es regional und auf Privat an Privat begrenzt schon gibt, sollte ein verantwortlicher Minister, ein sozial engagiertes Startup oder ein kluger Mäzen dringend auf die To-do-Liste setzen: Eine digitale Plattform für sämtliche Retouren, die eigentlich gespendet werden möchten und einen Abnehmer suchen. Für Spender, Abnehmer und Spediteure, die sagen: „Transportieren wir! Unser LKW ist sowieso mit einer Leerfahrt unterwegs!“ Wann zum Kuckuck gibt es endlich so eine überaus hilfreiche Plattform? Wir schaffen Bitcoins, aber das schaffen wir nicht?

Retouren werden vernichtet? Skandal! Aufschrei der Moral? Eher der Empörung. Man kann Moral als freischwebendes Abstraktum auffassen. Kann man. Muss man nicht. Wie Schiller seinen Wallenstein sagen lässt: „Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“ Moral funktioniert nicht voraussetzungslos.

Wir können moralisches Verhalten von Versendern und Konsumenten zwar fordern – und das mit Fug und Recht. Doch wenn wir möchten, dass Moral nicht nur gefordert, sondern auch gelebt wird, wird unser Wunsch umso eher wahr, je eher und umfänglicher wird die nötigen Voraussetzungen dafür schaffen. Indem wir Reparieren rentabler machen. Indem wir selber mehr reparieren (lassen). Indem wir einen (inter)nationalen, funktionierenden Markt für Retouren-Spenden schaffen. Wir alle wollen in einer moralische(re)n Welt leben. Schaffen wir die Voraussetzungen!

 

Prof. Dr.-Ing. Evi Hartmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Supply Chain Management, an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie ist Autorin des aktuellen Bestsellers „Wie viele Sklaven halten Sie?“ und hat einen eigenen Blog.

 

 

 

 

 

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