Über ein Resilienzprojekt
Traumatisiert und knapp dem Tod entronnen – in dieser Situation sind viele Flüchtlinge, nicht nur aus der Ukraine. Die Traumatherapeutin Elaine Miller-Karas berichtet über ein Resilienzprojekt, das sie im März 2022 für ukrainische Flüchtlinge mitinitiiert hat. Das Besondere: Helfen während ein Trauma entsteht – und über digitale Wege.
Am 1. März 2022 beginnt eine gequälte Stimme zu erzählen: „Mein Name ist Marianna. Mein Haus ist zerstört. Mein Büro wird beschossen. Ich bin knapp mit meinem Leben davongekommen.“ Aber ihr Bild erscheint nicht auf dem Bildschirm, nur ihre Stimme ist zu hören. Sie greift wackelig auf einen Videoanruf von ihrem Standort in der Ukraine zu.
„Ich werde nie wieder dieselbe sein“, sagt sie zu den ukrainischen und internationalen Lehrerinnen und Lehrern, Eltern, Großeltern, Gemeindemitgliedern und Traumaspezialisten auf dem Bildschirm.
Während wir zuhören, erzählt uns Marianna, wie allein sie sich in ihrer Verzweiflung fühlt.
„Wir können in diesem Moment für dich da sein“, sage ich ihr. „Kannst du spüren, dass du jetzt nicht allein bist?“
Sie hält inne und erzählt uns dann mehr über das Trauma, das sie durchlebt. „Ich lebe jetzt, aber morgen könnten sie mich umbringen.“ Ihre Stimme erhebt sich voller Trauer.
Ich fange an, mit ihr und den anderen Teilnehmenden über moralische Verletzungen zu sprechen und wie schwierig es ist, wenn unsere Werte im Umgang mit anderen im Krieg verletzt werden. Dann lade ich Marianna ein, eine Resilienzübung in der Gemeinschaft anzuwenden, um das Bewusstsein auf ihre internen und externen Kraftquellen zu richten. Sie verstummt und sagt nach einem Moment: „Ich weine jetzt. Die Gruppe hilft.“
„Wir umarmen dich“, versichere ich ihr. Die anderen Online-Teilnehmenden nicken mitfühlend. Ich frage sie, ob sie in diesem Moment Mitgefühl für sich und andere spüren kann. „Ja“, murmelt sie.
Die anderen Ukrainerinnen, die im Online-Raum sind, melden sich mit ergreifenden Worten der Ermutigung. Das Gespräch ist fast beendet und Marianna schließt mit den Worten: „Dies ist ein sicherer Raum. Ich danke euch.”
Traumaunterstützung zum Zeitpunkt des Entstehens
Unsere Mission am Trauma Resource Institute (TRI) ist seit jeher, Menschen nach Katastrophen Heilungsstrategien zur Verfügung zu stellen. Ich habe persönlich mit Geflüchteten und traumatisierten Gemeinschaften nach Naturkatastrophen, bewaffneten Konflikten und Massenerschießungen gearbeitet: in Haiti, China, Nepal, Thailand, Nordirland, Mexiko, Indien, der Türkei, Teilen Afrikas und vielen Gebieten der USA.
Eine internationale Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern nach dem Community Resiliency Model bringt sechs Wellness-Fähigkeiten ein, die das Nervensystem beruhigen und Depressionen, Angstzustände, PTBS, sekundären traumatischen Stress und Resilienz positiv beeinflussen können.
Wir fördern eine auf Stärken gerichtete Perspektive, um die Menschen an ihren Mut und ihre inneren Ressourcen zu erinnern. Ohne die Schwierigkeiten, die sie erleben, herunterzuspielen, lehren wir auch grundlegende Gedanken-Stopp-Techniken.
Als Bilder der russischen Invasion in der Ukraine in den Medien kursierten, waren viele von uns über die Gewalt schockiert und fragten sich, wie wir helfen könnten. Beim TRI sind wir es gewohnt, nach einem Trauma Unterstützung anzubieten.
Aber wir haben uns jetzt gefragt, ob wir einen Weg finden könnten, unsere Interventionen mit betroffenen Menschen während des Traumas zu teilen. Wenn das der Fall wäre, wäre dies ein Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie unsere Organisation auf menschliches Leid reagieren könnte.
Hilfe für traumatisierte Menschen während des Krieges
Seit ich im Herbst 2019 von EdCamp Ukraine eingeladen wurde, auf ihrer nationalen Bildungskonferenz einen Vortrag zu halten, hatte TRI eine enge Beziehung zu EdCamp Ukraine. Das ist eine Organisation, die sich auf Reformen des ukrainischen Bildungssystems konzentriert. Unsere Kollegen von EdCamp hatten um einen Workshop über das Resilienzmodell für Gemeinschaften (Community Resiliency Model) gebeten.
Dieser Workshop sollte für Pädagoginnen im ganzen Land über Zoom und Streaming auf Facebook unterrichtet werden. Auf diese Weise wurde das Humanitäre Projekt zur Förderung von Resilienz in der Ukraine (Ukrainian Humanitarian Resiliency Project) von TRI geboren.
Dabei wurde uns klar, dass wir nicht auf das Ende des Konflikts warten mussten, um zu helfen. Und wir könnten viel mehr Menschen in Echtzeit helfen, als wenn wir persönlich reagiert hätten.
Innerhalb von 24 Stunden konnten wir unseren Workshop anpassen, unsere Materialien ins Ukrainische übersetzen und eine Reihe von vier Webinaren starten, die Ende Februar begannen. Menschen aus der ganzen Ukraine schlossen sich uns an – während ihre Nachbarschaft beschossen wurde und nachdem Freunde und Familie getötet wurden.
Nach dem Ende dieser Workshops baten unsere ukrainischen Kollegen um tägliche Treffen, um die Kompetenz in Bezug auf die Anwendung des Resiliency Models zu fördern und auf Fragen zu antworten. Die Treffen werden live angeboten, und die Aufzeichnungen werden auf der Facebook-Seite des EdCamp Ukraine für alle, die sie verpassen, gepostet, was zu fast 50.000 Aufrufen geführt hat.
Wie man Angehörige an der Front unterstützen kann
Wir haben von den Ukrainern Fragen zu Selbstmordgedanken, Panikattacken, Trauer, Angst vor Vergewaltigung und Folter, der Angst, getötet zu werden oder das Wohlergehen geliebter Menschen erhalten. Wir haben viele Fragen zum Schutz der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beantwortet. Es gab auch viele Fragen darüber, wie man Angehörige an der Front unterstützen kann.
Unsere Mitarbeiterinnen und Freiwillige sind der Situation ausgesetzt, nicht zu wissen, ob die Menschen aus der Ukraine, mit denen sie sich treffen, überleben, gefoltert oder sterben werden.
Diejenigen von uns, die diese Arbeit außerhalb der Ukraine machen, haben die Erfahrung gemacht, zwei Stunden am Tag in der „Blase des Krieges“ zu sein und dann zu unserem relativ ruhigen Leben zurückzukehren. Die Folgen der Treffen bleiben bei uns, daher haben wir tägliche Support-Treffen für Mitarbeiterinnen und Freiwillige, um ihre Gefühle und Reaktionen zu verarbeiten.
Strahlen der Hoffnung
Obwohl die Hoffnung während des Krieges flüchtig sein kann, waren wir ermutigt, als die Ukrainer bei einem unserer Treffen im März fragten, ob jemand nach einer Diskussion über die heilenden Eigenschaften der Musik ein Lied teilen möchte.
Nach einer Pause erklang eine feine, kräftige Stimme und sang eine ukrainische Hymne. In den Augen der Teilnehmenden standen Tränen der Dankbarkeit. Als die Sängerin ihr Lied beendete, stellten wir fest, dass es Marianna war. Sie sagte, sie habe angefangen, sich anders zu fühlen als zu Beginn des Monats.
Tatsächlich hatte sie an diesem Tag zum ersten Mal seit Beginn des Krieges schlafen und mehr als ein paar Bissen essen können. „Es war wie ein Wunder“, erzählte sie uns, während des Krieges diese Hoffnung in sich selbst zu finden.
Wir haben frühere Webinare und tägliche Support-Treffen auf EdCamp Ukraine Facebook zur Verfügung gestellt, oder es kann das Trauma Resource Institute für weitere Informationen unter www.traumaresourceinstitute.com kontaktiert werden.
Elaine Miller-Karas
Quelle: Gekürzte Version aus der Fachzeitschrift Psychotherapy Networker, April 2022, mit freundlicher Genehmigung von Elaina Miller-Karas: Originalversion: www.psychotherapynetworker.org/blog/details/2061/wartime-trauma-treatment
Elaine Miller-Karas ist Traumatherapeutin und Direktorin für Innovation am Trauma Resource Institute in Kalifornien und Gründungsmitglied der International Transformational Resilience Coalition. Sie ist eine Schlüsselfigur in der Entwicklung der beiden Modelle Trauma Resiliency and Community Resiliency Models.
emillerkaras@communitytri.com
Übertragung und Kürzung aus dem Englischen ins Deutsche:
Ingrid Otepka, MARA O Achtsam Leben Erfahren. Sie veranstaltete am 8. Mai 2022 den internationalen Online-Kongress „Migration und Achtsamkeit in einer sich ständig wandelnden Welt“, bei dem Miller-Karas einen Vortrag hielt. Mehr: www.mindfulmara.at