Im Meditationsretreat bei Jon Kabat-Zinn
Die Meditations- und MBSR-Achtsamkeitslehrerin Michaela Doepke berichtet von ihren Erfahrungen im Meditationsretreat mit Jon Kabat-Zinn. Das achtsame Wahrnehmen, die Pausen und Stillemomente ermöglichen, lebendig zu sein. Der intensive Kontakt lässt Wertschätzung für Mensch und Natur entstehen.
Die Klangschale ertönt: Gehmeditation im Freien. Jon Kabat-Zinn inspiriert mit den folgenden Worten: „Sei der Berg, die Luft, höre der Welt zu. Wir sind nicht von ihr getrennt. Die Welt spricht zu dir.“
Jeder der 180 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sucht für das achtsame Gehen ein Lieblingsplätzchen im großen Park. Ich wähle einen Ort unter Bäumen, zelebriere die Langsamkeit, genieße die Parklandschaft, Entschleunigung. Ich habe Zeit, muss nirgendwohin, kein Ziel erreichen.
„Coming to Our Senses“ – Zur Besinnung kommen – lautet der Titel des fünftägigen, in englischer Sprache abgehaltene Retreats mit dem Begründer des Achtsamkeitsprogramms MBSR Jon Kabat-Zinn, das im Juni 2019 in Salzburg stattfand und von Arbor Seminare veranstaltet wurde.
Ich bin nun schon das zweite Jahr dabei, da Jon Kabat-Zinn für mich die Achtsamkeit authentisch verkörpert. Er lebt, was er lehrt. Und da ich schon über 30 Jahre meditiere, habe ich auch etliche Meditationslehrer kennengelernt, die das nicht tun. Seine Präsenz, seine Menschlichkeit, Warmherzigkeit und Bescheidenheit sind mir Vorbild.
Das Leben selbst ist die Meditationspraxis
Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) betont, dass die ultimative Meditationspraxis das Leben selbst ist und wie wir dazu in Beziehung stehen von Moment zu Moment. Dazu üben wir im Sitzen in einer hellen Meditationshalle mit weitem, offenem Blick auf Berge und Himmel, aber auch beim Gehen im Park.
Unter Anleitung praktizieren wir schweigend die Achtsamkeit auf den Atem, das Hören, den Körper, die Gedanken und Gefühle. Sitzphasen wechseln sich ab mit Gehmeditationen im weitläufigen Park; der Klang der Zimbeln lädt dazu ein. Immer geht es um die eigene Wahrnehmung, die intensive Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt. Nur so können wir in einer aus den Fugen geratenen Welt wieder zur Besinnung kommen, so der Ansatz.
Das Wort „Achtsamkeit“ mag Kabat-Zinn nicht. Für ihn ist die treffendere Übersetzung von Mindfulness: Gewahrsein. Das Gewahrsein weit werden lassen wie den Himmel, durch den Gedanken und Gefühle wie Wolken ziehen. Nichts festhalten wollen, nicht vorschnell urteilen, nichts sein wollen, Freundlichkeit und Güte üben: „So wie ich im Moment bin, bin ich völlig in Ordnung.“
Hörmeditation: Himmlisches Duett
Mehrmals praktizieren wir die Meditation auf das Hören. Eintauchen in die Geräuschelandschaft. Wir praktizieren den „Anfängergeist“, wie er im Zen genannt wird, lassen uns möglichst ohne Vorerfahrung und Vorurteile ganz auf die Erfahrung im jetzigen Moment ein. Es ist so, als hätten wir diese Geräusche noch nie gehört, wir bleiben neugierig und offen. Meine Ohren werden weit und ich lasse die Geräusche anstrengungslos zu mir kommen, ohne danach zu suchen.
Was mir beim intensiven Hören auffällt, ist vor allem der deutliche Unterschied zwischen natürlichen Geräuschen und mechanischen, die an mein Ohr dringen. Aufmerksam folge ich zunächst dem Vogelzwitschern, das von draußen durch die riesigen Fensterscheiben zu hören ist. Unterschiedliche Tonhöhen des Vogelgesangs, die Variation in der Länge der Töne und die Stille zwischen den Tönen. Erst die Pausen und die Stille ermöglichen dem zweiten Vogel mit seinem Gesang zu antworten. So entsteht ein himmlisches Duett, in das später andere Vögel munter einstimmen.
Könnte ich doch die Sprache der Vögel verstehen und was sie sich da zuzwitschern! Mir wird klar, lebendige Kommunikation entsteht durch die „Ruhe zwischen zwei Tönen“, wie es der Dichter Rainer Maria Rilke es im “Stundenbuch” so wunderschön formuliert hat. Ein Dialog ist immer auch eine kreative Improvisation, ein Warten und Einfühlen auf die unbekannte Antwort, ein kreatives Senden und Empfangen in Beziehung aufeinander, ein Modulieren, spontanes Geben und Nehmen, auf das Gesagte folgt die individuelle Antwort. Nur so kann Beziehung und Einfühlung entstehen. Ich tauche tief in diese Pausen ein: sich einlassen auf das Unbekannte. Die Leere zulassen. Statt dem Nichts ist da plötzlich bunte lebendige Vielfalt.
Beschleunigung untergräbt Lebendigkeit
Ganz anders erlebe ich das monotone, automatisierte pausenlose Geräusch der Klimaanlage im Meditationsraum: der immergleiche Sound, der an meine Ohren dringt. Wie langweilig, denke ich. Keine Pausen, keine Stille, kein Raum, kein variierender natürlicher Rhythmus, keine Beziehung. Spiegelt dieser monotone Ton nicht unser Arbeitsleben im Dauertrott wider, orientiert an Maschinen, am PC? Dieses pausenlose Funktionieren-müssen, die Rastlosigkeit, ununterbrochene Erreichbarkeit. Und immerzu Tempo, Tempo, bis wir uns nicht mehr spüren und innerlich vereinsamen, unfähig für ein Miteinander.
Leben, Lebendigkeit und Beziehung drücken sich erst durch die Pausen aus, durch unterschiedliche Rhythmen und Stillemomente. Erst die Leere, das Nicht-Wissen, die Stille ermöglichen das empathische Zuhören, die Bezogenheit auf das Gegenüber. Darum sind gezielte Pausen in unserer atemlosen Welt so wichtig.
Entspannung, Atempausen, auch Retreats helfen, mit mir und der Welt in tiefen Kontakt zu kommen, im wahrsten Sinne zur Besinnung zu kommen. Doch dazu müssen wir uns Zeit nehmen, aussteigen, den Maschinentakt und die Beschleunigung nicht mehr mitmachen. Wir sind keine Maschinen, die dauernd funktionieren müssen, wir sind Menschen und Teil der Natur.
Gehmeditation: Lebensfreude kommt im Herzen an
Barfuß setze ich bewusst Schritt für Schritt einen möglichst achtsamen Fußabdruck auf die feuchte Erde und genieße das Gehen. „Mit den Füßen die Erde küssen“, wie Kabat-Zinn inspiriert. Ich würdige Mutter Erde, die uns trägt und nährt, spüre die Feuchtigkeit unter meinen Zehen, wenn sie beim Aufsetzen die weiche Erde verdrängen, nehme die vielen verschiedenen Grüntöne der Gräser wahr. Bewusst erlebe ich die Vielfalt der Fliegen und Insekten, die fleißigen Ameisen, die ihre Wege ziehen. Jedes Insekt folgt seiner Aufgabe, hat seinen sinnvollen und einzigartigen Platz in der Natur.
Nur durch diese Langsamkeit nehme ich das Leben und die Verbundenheit mit der Natur so intensiv wahr. Ich genieße das Leben und seine Wunder, Lebensfreude kommt im Herzen an. Ich rieche den Duft der Kiefern, spüre das Streicheln des Windes auf meiner Haut, höre den Wind in den Blättern der Bäume rascheln, deren Sauerstoffproduktion mir bewusst ist.
Da ist Nicht-Getrenntsein, Verbundenheit mit allen Elementen. Mir ist die Abhängigkeit von sauberem Wasser bewusst, von sauberer Luft zum Atmen und einer gesunden Erde. Mir wird klar: Wir sind das Wasser, die Erde, die Luft, die Wärme. Unser materieller Körper besteht aus diesen Elementen, zu 95 Prozent aus Wasser.
Tiefes Mitgefühl steigt in mir hoch und die Erkenntnis: Den bedrohten Planeten, Mutter Erde zu schützen ist auch Selbstschutz. Nur durch Achtsamkeit wird unser Bewusstsein geschärft und unsere Sinne. Schweigen und Stille machen diese heilsame Besinnung und das Bewusstsein der Wechselwirkung und Abhängigkeit von der Natur möglich.
Ich wünsche mir mehr Stille-Inseln auf der Welt, mehr Managerinnen und Politiker, die Gehmeditation praktizieren. Ich wünsche mir, dass wir alle in dieser Langsamkeit und Stille die lebendige Vielfalt, die reiche Erfahrung des Hier und Jetzt, die Schönheit und die Liebe zur Erde wiederentdecken und das Leben gemeinsam schützen und feiern.
Michaela Doepke
Rainer Maria Rilke
Mein Leben ist nicht diese steile Stunde,
darin du mich so eilen siehst.
Ich bin ein Baum vor meinem Hintergrunde,
ich bin nur einer meiner vielen Munde
und jener, welcher sich am frühsten schließt.
Ich bin die Ruhe zwischen zweien Tönen,
die sich nur schlecht aneinander gewöhnen:
denn der Ton Tod will sich erhöhn –
Aber im dunklen Intervall versöhnen
sich beide zitternd.
Und das Lied bleibt: schön.
Michaela Doepke, Meditations- und MBSR-Lehrerin, Dozentin in der MBSR-Ausbildung, Journalistin und Redakteurin für Ethik heute. Mehr: www.michaela-doepke.de