Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Schlüssel zu einem mitfühlenden, mutigen Leben

Cover Joan Halifax Gratwanderung

Ein Buch der Zen-Meisterin und Aktivistin Joan Halifax

Joan Halifax sieht in der Gratwanderung zwischen dem eigenen Wohl und dem der anderen eine Lebensaufgabe. In ihrem Buch stellt sie fünf Eigenschaften eines ethischen Lebens vor, die man in Balance bringen muss: Altruismus, Empathie, Integrität, Respekt und Engagement.

Das Leben von Joan Halifax war voller Gratwanderungen. Die amerikanische Zen-Meisterin und Aktivistin hat in Gefängnissen mit Mördern meditiert, Proteste zum Klimawandel mitorganisiert und Todkranke begleitet. Gerade ihre Arbeit im Umgang mit Sterbenden fand große Verbreitung, auch in amerikanischen Kliniken. Ihr Zen- und Retreat-Zentrum Upaya in New Mexico leitet sie mit Klarheit, Strenge und Einfachheit sowie mit einer inhaltlichen Orientierung am Sozial Engagierten Buddhismus.

Schon ihre Kindheit begann mit einer Gratwanderung. Im Alter von zwei Jahren erkrankte sie schwer an den Augen und musste zwei Jahre die Ungewissheit ertragen, bis endlich klar war, dass sie nicht für immer blind sein würde. Wer sie heute erlebt, im Alter von 76 Jahren, mag es kaum glauben, wie vital sie ist. Joan Halifax strahlt von innen heraus. Mit großer Offenheit begegnet sie den Menschen und das schließt das offene Ansprechen unangenehmer Themen mit ein. Bei ihren Projekten geht es ihr darum, Menschen bei jeder Art von Gratwanderung zu helfen. Es scheint, als könne sie nichts aufhalten, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

In ihrem neuesten Buch erfahren wir viel über Joan Halifax und ihren Werdegang und lernen ihren Kosmos kennen. Sie teilt mit uns ihr Nachdenken darüber, wie wir angesichts großer Schwierigkeiten demütig, weise und einsichtig werden können und wie wir verhindern können, dass wir bei unseren eigenen Gratwanderungen abstürzen.

Wie man vermeidet abzustürzen

Bei ihren Gratwanderungen, so erzählt sie in ihrem Buch, sind ihr im Laufe der Jahre die fünf inneren Eigenschaften, „bewusst geworden“, die „den Schlüssel zu einem mitfühlenden und mutigen Leben darstellen und ohne die wir weder etwas Gutes tun noch überleben können“. Dies fünf, denen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet ist, sind Altruismus, Empathie, Integrität, Respekt und Engagement. „Wenn diese wertvollen Ressourcen an Kraft verlieren, können gefährliche Landschaften entstehen, die Schaden verursachen.“

Dagegen setzt das Buch konkrete Hilfestellungen, wie wir das, was sie als gefährliche Landschaften bezeichnet, meistern können. Sie verbindet psychologische und philosophisch-buddhistische Einsichten, wie sie im Mainstream der Achtsamkeit heute üblich sind. Dazu kommt am Ende jedes Kapitels eine Art Übungsbox, die dabei helfen kann, Gratwanderungen unserer eigenen Psyche zu meistern.

Ein Schwerpunkt in den Kapiteln liegt darauf, krankhafte oder übertriebene Formen der fünf Ressourcen zu erklären. Es gilt, ein „Zuviel“ zu vermeiden oder zu überwinden, zum Beispiel ein Zuviel an Empathie oder an Engagement. Die Gratwanderung zwischen dem eigenen Wohl und dem der anderen, das ist die Lebensaufgabe.

Als Gegenmittel zu den Extremen nennt die Autorin die Praxis der Achtsamkeit ebenso wie die drei Verpflichtungen des Zen-Meisters Bernie Glassmann für den Peacemaker-Orden: Nicht-Wissen, Zeugnis ablegen und mitfühlendes Handeln. Beides zusammen, die Arbeit am eigenen Geist, und das mitfühlende Handeln machen eine reife Persönlichkeit aus.

Auch zieht sie Empfehlungen aus der Therapie heran wie die Verwendung des Drama-Dreiecks in der Gruppenkommunikation. Und natürlich die Meditation, auf die sie immer wieder Bezug nimmt. Dazu kommen Dankbarkeit, Impulskontrolle, stille Selbstreflexion als Wege auf den eigenen Gratwanderungen.

Nach den fünf Kapiteln, einer Tour de Force durch die Deformation eigentlich guter zwischenmenschlicher Eigenschaften, findet sich noch ein wichtiges sechstes Kapitel über das Mitgefühl. Denn Mitgefühl hält jeder Deformation stand, so Halifax.

Vorliebe für die Extreme

Was Joan Halifax auch sagt und macht: sie tut es leidenschaftlich, „wholeheartedly“, eine ihrer Lieblingsvokabeln. So ist auch das Buch. Ihre Ergebnisse und Einsichten trägt sie im Brustton der Überzeugung vor, untermauert von eigenen Erfahrungen und wissenschaftlichen Untersuchungen.

Ihr Duktus der Beherztheit erlaubt ihr, auch Behauptungen mit einem für ein Sachbuch ungewohnten Absolutheit in den Raum zu stellen. So liest man im Kapitel über die Verpflichtung, respektvoll zu sein z.B. „Das Ego zähmende Gelübde lehrt uns, dass es einfach nicht praktisch ist, egoistisch zu sein. Punktum!“ (S.147) Aussagen wie diese klingen für mich zu forsch, was uns zu den Schattenseiten dieser Gratwanderung bringt.

Joan Halifax hat eine Vorliebe für die Extreme. Es ist dieses Außergewöhnliche und fast Übermenschliche, das mich beim Lesen manchmal ermüdet hat. Mir kamen Zweifel, ob ich diesem Ton standhalten möchte.

Zwei Beispiele: Nach der Erdbebenkatastrophe in Nepal 2015 hatte Joan Halifax eine Nomaden-Klinik und ein Ambulanzteam für die Opfer aufgebaut. 2016 führte sie dann die anstrengende Reise in die Tiefen des Himalaya als über 70jährige Frau selbst an. Sie und ihr Team beschlossen, dort Hunderten Dorfbewohnern die Füße zu waschen, um sich tiefer mit ihnen zu verbinden.

Diese Aktion geschah, wie sie selbst schreibt, in Anlehnung an Papst Franziskus. Er hatte 2015 in einer Flüchtlingsunterkunft 12 Geflüchteten die Füße gewaschen, als Symbol für seine Demut und Verbundenheit. Beim Lesen dieser Geschichte fragt man sich: Müssen Joan Halifax und ihr Team besser sein als der Papst? Wozu diese Superlative?

Mir hat dieser Tick zur Selbstdarstellung ab und an die Lektüre verhagelt und das Lesen erschwert. Gleichzeitig weiß ich aus Erfahrung: So ist Joan Halifax und ich könnte auch offen mit ihr darüber reden. Und wer weiß, welches meine Ticks so sind.

Und doch ist das Buch ein Gewinn. Das Ausgleiten am Grat, auch am Grat des eigenen Ego, das macht sie überzeugend klar, ist menschlich. Und sie gibt uns als erfahrene spirituelle Lehrerin ihren Kompass an die Hand, damit wir gut auch durch gefährliche Landschaften navigieren können. Sie selbst ist übrigens nie wirklich abgestürzt, auch wenn es viele bedrohliche Situationen in ihrem Leben gab.

Antje Boijens

Joan Halifax. Gratwanderung: Achtsame Ethik für ein nachhaltig bewusstes Leben. O.W. Barth Verlag 2019

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