Schuldet man seinen Eltern Dank?

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Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage dazu auf, wie man frei in der Beziehung zu seinen Eltern sein kann: “Schulde ich meinen Eltern Dank? Darf ich das Studium abbrechen, das sie mir finanziert haben?”

Frage: Schuldet man seinen Eltern Dank und was bedeutet das eigentlich konkret im Alltag? Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich das teure Studium, für das die Eltern viel gespart haben, abbreche. Oder soll ich perspektivisch das Geld zurückzahlen, was im Moment natürlich nicht geht. Es ist ein Dilemma, dass ich autonom und frei sein will, aber gleichzeitig die Eltern respektieren möchte.

Jay Garfield: Es gibt einen Unterschied zwischen Dankbarkeit und Gehorsam. Beginnen wir mit der Dankbarkeit. Ich denke, dass Dankbarkeit eine der vernünftigsten und wohltuendsten Haltungen ist, die wir kultivieren können – nicht nur gegenüber den Eltern, sondern gegenüber allen, die unser Leben möglich machen.

Diese Haltung ergibt sich ganz natürlich, wenn wir bedenken, wie viel andere für uns tun. Andere sorgen für unsere Nahrung, Kleidung und Unterkunft, stellen Güter her, die unser Leben angenehm machen.

Andere Menschen entwickeln viele der Ideen, die unser Verständnis der Welt ausmachen. Oder sie leisten die harte Arbeit, um die Gesellschaft aufrechtzuerhalten, die uns Sicherheit, Bildung und Gesundheit bietet. Wieder andere korrigieren unsere Fehler und zwingen uns zum Nachdenken.

Unsere Eltern tun all dies und noch mehr. Durch den komplexen Prozess der Erziehung lehren sie uns die Fähigkeiten, die wir brauchen, um Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Sie vermitteln die Werte, die uns im Leben leiten, und sie tun dies mit einer so großen Hingabe, dass sie sich ganz mit ihrer Rolle als Eltern identifizieren.

Deshalb sagt Aristoteles, dass wir unseren Eltern das schulden, was wir den Göttern schulden; sie haben uns nicht nur biologisch, sondern auch sozial geschaffen.

Das Geschenk der Autonomie

Dankbarkeit bedeutet jedoch nicht Gehorsam. Eltern geben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Sie wissen, dass eines der größten Geschenke, das sie ihren Kindern machen können, die Autonomie ist: die Reife, selbst zu entscheiden, wie sie ihr Leben führen wollen.

Als Vater, der seine Arbeit getan hat, erfreue ich mich daran, dass meine Kinder jetzt, da sie erwachsen sind, gut für sich sorgen und ihre eigenen Interessen besser einschätzen als ich.

Das wiederum bedeutet, es liegt in unserer Verantwortung, die Kinder so zu erziehen, dass sie in der Lage sind, vernünftige und weise Entscheidungen zu treffen. Und ich habe ihre Entscheidungen dann zu respektieren, selbst wenn ich an ihrer Stelle anders entscheiden würde.

Um dies aus der entgegengesetzten Perspektive zu betrachten: Ein Sohn oder eine Tochter, auch wenn er oder sie erwachsen ist, ist seinen Eltern zu Dankbarkeit verpflichtet.

Diese Dankbarkeit sollte sie dazu veranlassen, die Meinung der Eltern ernst zu nehmen und auf ihren Rat zu hören. Aber das ist auch schon alles: Man ist als Erwachsener niemals verpflichtet, diesen Rat zu befolgen, denn dann müssten wir für immer ein Kind bleiben.

Man kann es auch anders ausdrücken: Ein Ratschlag ist etwas anderes als eine Anweisung. Anweisungen sind für kleine Kinder geeignet, können aber niemals die Grundlage für die Beziehungen zwischen Erwachsenen sein – außer vielleicht in hierarchischen Organisationen.

Auf einen Rat zu hören, bedeutet, den anderen zu respektieren. Gleichzeitig sollten Sie bereit sein, Ihrem Herzen zu folgen, wenn Sie gegen den Rat entscheiden. So reifen Sie innerlich und zeigen Selbstrespekt – all das wünschen sich Eltern für ihre Kinder.

Hören Sie also auf den Rat Ihrer Eltern, sprechen Sie mit ihnen über Ihre Entscheidung. Und tun Sie dann, was für Sie am besten ist. Sie können dankbar sein, dass die Eltern es Ihnen ermöglicht haben, selbst zu denken und Ihr eigenes Leben zu führen.

Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org

Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick
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Das ist etwas, was man, glaube ich, erst etwas später lernt und nicht schon als junger Erwachsener.

Bei mir war es zum Beispiel so, dass meine Berufswahl in meiner Jugend zu einigen Diskussionen geführt hat. Meine Eltern sind beide Akademiker, ich wollte aber unbedingt ein Handwerk lernen. Das war damals sicherlich auch davon geprägt, dass ich die Schule als so negativ erlebt habe. Heute bin ich meinen Eltern dankbar für ihre Unterstützung aber auch für ihr unentwegtes Zureden vor der Ausbildung noch mein Abitur zu machen.

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