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Foto: David-W-photocase.com
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Ein kritischer Gastbeitrag von Matthias Ennenbach

Der Autor nimmt die Achtsamkeitswelle aus seiner Sicht als Psychotherapeut kritisch unter die Lupe. Achtsamkeit erzeugt – falsch verstanden – oft zusätzlichen und unnötigen Leistungsdruck. Es geht aber vielmehr um eine neue innere Haltung von Akzeptanz und Wohlwollen.

Was bedeutet Achtsamkeit für Sie persönlich? Ist es ein wenig so wie in der nachfolgenden Abbildung? Würden Sie nicht auch die rechts sitzende Person als achtsam und die links sitzende Person als unachtsam bezeichnen? Achtsamkeit wäre also ein Zustand, in dem der Geist ganz leer und ruhig wird und wir im Hier und Jetzt verweilen.
Ennenbach Skizze

Viele laienhafte Vorstellungen von Achtsamkeit sind ebenso idyllisch wie die Abbildung, denn sie erzeugen ein Bild von Achtsamkeit, das sehr einseitig ist. Und das auch einen hohen Anspruch vermittelt, denn den Geist so zu schulen, dass wir beim Anblick einer Blume nur noch eine Blume im Geist haben und sonst gar nichts, das ist eine echte Herausforderung. „Wie soll das gehen?“ fragen sich sicherlich viele.
Achtsamkeitsschulungen in Chefetagen
Da sind heute nicht nur spezielle Achtsamkeitstrainer, sondern Berater und Coaches generell gefragt. Das Achtsamkeitsprinzip hat mittlerweile Einzug in den Beratungs- und Behandlungsalltag gehalten. So hat die Verhaltenstherapie das Prinzip der Achtsamkeit als zentralen Schwerpunkt in ihr Konzept aufgenommen. Derzeit sind Achtsamkeitsschulungen sogar in den Chefetagen der DAX-Unternehmen angekommen. Hier heißt es dann achtsam und zugleich effektiv sein.
Den Mitarbeitern sowie unterschiedlichen Patienten und Klienten wird also das Prinzip der Achtsamkeit anempfohlen. Das setzt natürlich nicht nur voraus, dass die behandelnden Ärzte, Psychotherapeuten, MBSR-Trainer und Berater genau wissen, was sie da anbieten, sondern dass sie es authentisch vermitteln. Die behandelnden Personen und Trainer sollten also nicht nur durchgängig mit ihren Klienten und Patienten achtsam umgehen, Achtsamkeit vermitteln und fördern, sondern sie auch vorleben.
Neuer Appell: Sei immer achtsam!

Nicht wenige Achtsamkeitstrainer kommen in eine unangenehme Lage, wenn sie Achtsamkeit anleiten, aber selbst nicht verwirklichen können. Das erzeugt zumindest unterschwellig eine problematische Dynamik. Zudem heißt es für sie nicht mehr nur „Sei fleißig, sei pünktlich, sei freundlich, sei kompetent, sei hilfreich, sei kreativ, sei mitfühlend“, etc. sondern auch „Sei achtsam!“ Das ist der neue Appell.
Er ist aber nicht eindeutig, sondern wird je nach Situation sehr unterschiedlich wahrgenommen. Von „Sei doch achtsam, das wird dir gut tun“ und „Sei achtsam und mache keine Fehler“ bis hin zu „Sei gefälligst achtsam, du Tölpel!“
Viele Artikel und Bücher stellen die heilsamen Seiten der Achtsamkeit in den Mittelpunkt, aber wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Das Erahnen der hohen Bedeutsamkeit des Themas, die Medienpräsenz des Begriffs in Kombination mit unklaren Vorstellungen von Achtsamkeit und einem überhöhten Anspruch an die eigene Leistungsfähigkeit erzeugen in vielen Menschen zusätzlichen Druck. Mehr noch, es werden Erfahrungen von Misserfolg vorprogrammiert.
Als besonders schwierig wird in diesem Zusammenhang oft die Übertragung einer positiven Achtsamkeitserfahrung in das Alltagsleben genannt. Die Erfahrungen, die hier entstehen, werden oft als persönliches Scheitern fehlinterpretiert. Und das oft nur deshalb, weil die Zielvision von Achtsamkeit unklar oder wenig realistisch verstanden wurde.

Mythos Achtsamkeit: verstehen und entspannen

Zuerst einmal seien Sie sich gewiss, dass Achtsamkeit keine übermenschliche Eigenschaft ist. Sie ist vielmehr eine universelle Veranlagung in allen Menschen. Das bedeutet, dass wir diese innere Ressource lediglich regelmäßig aktivieren müssen, damit sie gedeiht. Zudem werden wir die Früchte bereits schon nach wenigen Wochen ernten können und nicht erst als weißhaarige alte Mönche und Nonnen.
Es ist also hilfreich, wenn wir den Mythos Achtsamkeit durchdringen und das Prinzip verstehen. Der Geist muss nicht vollkommen leer werden. Vielmehr basiert das Achtsamkeitstraining darauf, dass wir uns stärker darüber bewusst werden, was jetzt gerade da ist. So können wir uns eine Blume anschauen und gleichzeitig bemerken, wie voll unser Geist ist. Sofort sind wir in einem Bewusstsein, dass sich sehr wohl als achtsam beschreiben lässt.
Die Kunst der Achtsamkeit ist also zu Anfang insbesondere eine Kunst der Unterbrechung und die bewusste Absicht, aus unseren Gewohnheitsmustern auszusteigen. Dafür benötigen wir ein paar konkrete Trainingsimpulse. Wenn wir die Unterbrechungen immer mehr in unseren Alltag integrieren können, dann besteht der nächste Schritt darin, diese Pausen mit hilfreichen Übungen zu füllen.

Einfache aber konkrete Hilfen

Verkürzt lässt es sich so beschreiben, dass wir möglichst oft darauf achten, welche Signale unser Körper sendet. Achtsamkeit beginnt immer auf der körperlichen Ebene. Erst an zweiter Stelle kommen dann die Emotionen und erst danach die Gedanken. Diese einfache Dreiteilung beschreibt sehr konkret den Achtsamkeitsprozess.
Das Ziel besteht nun nicht darin, möglichst schnell alle drei Stufen zu durchlaufen, sondern insbesondere sehr ausgiebig beim ersten Schritt zu verweilen. So können Sie Ihren Körper besser lenken, aktivieren und beruhigen, wenn Sie es möchten. Versuchen Sie doch einmal, sich vollkommen auf Ihren Körper zu konzentrieren, also alle Emotionen und Gedanken vorbeiziehen zu lassen und den inneren Fokus nur auf der Körperebene zu konzentrieren. Das ist nur anfangs etwas holprig, aber mit regelmäßigem Üben wird es leichter.
Das ursprüngliche Achtsamkeitstraining ist also ein Geistestraining, das sich sehr um den Körper bemüht. Als Quelle wird die ursprüngliche Lehrrede über Achtsamkeit genutzt, die seit über 2000 Jahren in der buddhistischen Geistesschulung Anwendung findet.

Achtsamkeit leicht nehmen

Versuchen Sie nicht, irgendeinem Ideal zu entsprechen. Achtsamkeit ist kein Ideal. Bleiben Sie vielmehr aufmerksam und neugierig für jeden Moment, den Sie erleben. Aktivieren Sie dazu möglichst oft Ihren Anfängergeist. Tun Sie oft so, als würden Sie das Aktuelle zum ersten Mal erleben. Also einfach beobachten was ist.
Achtsamkeit ist zwar vollendet, wenn der Meister zum Meister wird, aber eben auch wenn der Bäcker zum Bäcker und die Heilpraktikerin zur Heilpraktikerin wird. Es werden immer wieder Fehler passieren, viele und schwere Fehler. Das ist unumgänglich. Versuchen Sie nicht, Fehler zu vermeiden, sondern betrachten Sie das, was Sie für Fehler halten, ganz offen und direkt. Machen Sie gerne achtsam Lärm. Streiten Sie sich gerne achtsam und leidenschaftlich.
Grundlegend geht es also eher um das Bewusstsein, dass wir unser eigenes Denken und Handeln lenken können und weniger darum, alles langsam, leise und fehlerfrei zu erledigen.
Achtsamkeit stammt aus einer spirituellen Tradition, in der das oberste Ziel die Befreiung ist. Lassen Sie sich also nicht mit dem Achtsamkeitsappell einsperren. Achtsamkeit sollte nämlich nicht zu einem Leistungsmerkmal werden.
Ennenbach Portrait Dr. Matthias Ennenbach arbeitet seit rund 25 Jahren als Psychotherapeut in klinischen Kontexten und eigener Praxis in NRW, Bayern und Berlin. Neben einem Abschluss als Diplom-Psychologe und psychotherapeutischen Fachausbildungen zum approbierten Psychologischen Psychotherapeuten promovierte er an der medizinischen Fakultät der Universität München. Aktuell ist er als Buchautor und als Ausbilder für Mindfulness Self Control MSC und für die Ausbildung zum Buddhistischen Therapeuten der BPT® tätig.
Weitere Informationen zum Autor

Bisher von Ennenbach erschienen:

Buddhistische Psychotherapie. 472 S. Windpferd Verlag 2010
Buddhist Psychotherapy. 480 S. LotusPress, Wisconsin USA 2013
Befreit–Verbunden. 244 S. Windpferd Verlag 2011
Buddyjska recepta – Na MiLosc. 272 S. Polen: Studio Astropsychologii. 2013
Praxisbuch – Buddhistische Psychotherapie. 583 S. Windpferd Verlag 2012
Einführung in die Buddhistische Psychotherapie. 141 S. Windpferd Verlag 2012
Der Tod des Dalai Lama. Roman. 331 S. Kamphausen / Tao Verlag 2013
Buddhistische Lebenskunst. Das B-Prinzip. 304 S. Random House / Lotus Verlag 2013
Der Leichte Weg. 530 S. Windpferd Verlag 2014
Dein erleuchtetes Ego. 222 S: Random House / Heyne Verlag 2014
Leben und Sterben. 250 S. Windpferd Verlag 2014
Psychosomatik. 96 S. Windpferd Verlag 2015

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In einer Zeit, in der viele Leute das Wort “Achtsamkeit” verwenden, aber irgendwie auch mit “Happiness”, “Entrücktheit”, “Perfektheit” “Erfolgreich” verwechseln, ein wirklich lesenwerter Beitrag. Herzlichen Dank!

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