Das neue Buch von Joachim Bauer
Wer kennt es nicht, dass kurzfristige Bedürfnisse mit längerfristigen Zielen kollidieren? Professor Joachim Bauer plädiert mit seinem neuen Buch dafür, die Fähigkeit zur Selbst-Steuerung stärker zu nutzen. Nur so finde man zu sich selbst und entdecke den tieferen Sinn des Lebens.
Hand aufs Herz: Fühlen Sie sich frei? Wie viel Entscheidungsfreiheit haben Sie – beim Einkaufen, beim Surfen im Internet, beim Alkohol-Genuss …? Der Neurobiologe und Psychotherapeut Joachim Bauer hat ein Buch über ein vernachlässigtes Thema geschrieben: die Möglichkeit, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen.
Freiheit, so die These des Autors, zeige sich nicht darin, seine Impulse auszuleben, sondern „unser wahres Leben zu leben und zu uns selbst, unserer eigenen Identität zu finden“. Dabei geht es ihm nicht um die alte philosophische Debatte über den freien Willen – dieses Thema wird nur kurz gestreift –, sondern um ganz praktische Lebensfragen: Bin ich in der Lage, die Befriedigung kurzfristiger Bedürfnisse zurückzustellen, um langfristige Ziele zu erreichen? Wie finde ich Wege aus dem Hamsterrad, dem Teufelskreis von Stress und Gefühlen von Sinnlosigkeit?
Anders als die Tiere ist der Mensch mit einem Präfrontalen Cortex ausgestattet, zuständig für die „Top-down-Kontrolle“, wie Bauer es nennt. Während das Triebsystem die Grundlage für ganz basale, spontan ablaufende Verhaltensweisen und Affekte ist und damit das Leben erst ermöglicht und Gefahren abwendet, sei das Stirnhirn „der Ort des freien Willens“. Es versetze den Menschen in die Lage, seine Aufmerksamkeit zu lenken, mehrere Aspekte einer Situation wahrzunehmen und sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Das Stirnhirn sei das „Zentrum für die soziale Intelligenz“.
Mehr Zufriedenheit durch Selbstkontrolle
Bauers Anliegen ist es, den Leserinnen und Lesern bewusst zu machen, wie groß ihre Spielräume sind und wie sehr diese vernachlässigt werden in einer Gesellschaft, die so extrem auf kurzfristige Bedürfnisbefriedigung aus ist. Der Autor spricht davon, dass der Präfrontale Cortex regelrecht „eingeschläfert“ würde, weil Menschen ihren Süchten und spontanen Wünschen folgten.
Die Folge seien Erschöpfung, Frustration und Unzufriedenheit. „Menschen mit funktionierender Selbststeuerung hingegen erleben signifikant mehr Glück und weniger Leid, Angst und Depressivität als jene, denen sie fehlt,“ zitiert Bauer aus einer wissenschaftlichen Studie.
Gerade für Kinder und Jugendliche sind diese Fähigkeiten zentral, daher ist ein längeres Kapitel dem Thema ‚Erziehung’ gewidmet. Das Buch ist auch ein Appell an Eltern, die Kinder anzuleiten, ihre Fähigkeit zur Selbstkontrolle zu entwickeln. Denn nur so könnten junge Menschen ihre kreativen Potenziale entfalten.
Zwei weitere Kapitel widmen sich der Aktivierung der Selbst-Steuerung in der Medizin und zur Bewahrung der Gesundheit. Bauer kritisiert die Schulmedizin, die den Menschen als „biologische Maschine“ sehe und für die Fürsorge ein Fremdwort sei. Die Möglichkeiten zur Selbstheilung würden nicht genutzt. Auf der anderen Seite übernähmen auch viele Kranke keine Verantwortung. Sie nutzten die Krise nicht, um Selbstfürsorge zu entwickeln.
Mit seinem Buch rückt Bauer ein wichtiges gesellschaftliches Thema in den Mittelpunkt, das letztlich die Frage berührt, wie wir uns von Automatismen lösen und wieder zu uns selbst finden. Ein Manko ist, dass offen bleibt, wie die Selbst-Steuerung eigentlich gestärkt werden kann. Gibt es dazu Methoden, lässt sich das erlernen? Es scheint mit Willenskraft zu tun zu haben, doch wie entwickelt man diese, vor allem dann, wenn man keine hat?
Birgit Stratmann
Joachim Bauer, Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens. Blessing 2015