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„Sexuelle Gewalt gegen Frauen wird verharmlost“

Peopleimages/ Shutterstock
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Interview mit der Psychologin Angelika Treibel

Frauen, die sexuelle Gewalt erleben, wird oft eine „Mitschuld“ zugesprochen. Viele denken selbst, sie hätten etwas falsch gemacht. Die Psychologin Dr. Treibel spricht im Interview über fehlendes Mitgefühl für betroffene Frauen, überkommene Rollenbilder und mehr Sensibilisierung im Zuge der #MeToo-Debatte.

Die Diplom-Psychologin Dr. Angelika Treibel ist Leiterin einer Beratungsstelle für Betroffene von hoch belastenden Ereignissen und forschte an der Universität Heidelberg dazu.

Das Gespräch führte Kirsten Baumbusch

Frage: Sexuelle Gewalt ist extrem schambehaftet, das ist bekannt. In letzter Zeit wurde aber immer wieder deutlich, dass auch das Thema „Schuld“ eine große Rolle spielt. Was passiert da?

Angelika Treibel: Wie wir Menschen die Welt sehen und Ereignisse beurteilen, wird von tiefsitzenden stereotypen Vorstellungen beeinflusst. Bei sexuellen Übergriffen geht es dabei maßgeblich um sogenannte „Vergewaltigungsmythen“.

Das sind Überzeugungen, die das Ausmaß sexueller Gewalt und deren Folgen verharmlosen, rechtfertigen oder leugnen. Den Betroffenen wird unterstellt, sie hätten „es provoziert“, „so gewollt“ oder es sei „schon nicht so schlimm“. So wird die Verantwortung den Frauen zugeschoben und sexuelle Gewalt als eine Art Naturkatastrophe behandelt – einfach eine Gefahr, mit der Frauen rechnen müssen.

Ihre Aufgabe sei es, so denken viele, Risiken zu erkennen und zu vermeiden. „Was haben die erwartet, was auf den After-Show-Partys passiert“, war beispielsweise in den Kommentarspalten der Sozialen Medien zu den Rammstein-Vorwürfen zu lesen. Im Kontrast zu einem Wohnungseinbruch ist sexuelle Gewalt eine Form der Kriminalität, bei der es in weiten Kreisen der Gesellschaft für möglich gehalten wird, dass das Opfer Mitschuld hat – mitunter sogar von der Betroffenen selbst.

Viele Frauen denken, sie hätten etwas falsch gemacht, wenn ihnen Gewalt angetan wird.

Wie kommt das?

Angelika Treibel: Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist weniger ein individuelles als ein strukturelles Problem. Das vergessen wir immer wieder. Bis hinein in die Gerichtssäle ist zu beobachten, dass über „angemessenes“ und „unangemessenes“ Verhalten der späteren Opfer im Vorfeld der Tat debattiert wird.

Wir leben in einer Gesellschaft, die Frauen lehren will, wie sie verhindern, vergewaltigt zu werden – anstatt Männern beizubringen, nicht zu vergewaltigen. Das prägt natürlich auch Frauen. Deshalb denken viele, sie hätten etwas falsch gemacht, nicht klar genug „Nein“ gesagt, den Täter provoziert oder sich nicht genügend gewehrt.

Dazu kommt: Wer von klein auf erlebt hat, dass sexuelle Übergriffe anders bewertet werden als beispielsweise ein Messerangriff oder ein Raubüberfall, der empfindet es dann als „normal“, wenn eigene Grenzen verletzt werden.

Und dann gibt es bei dem Gefühl, selbst schuld zu sein, davon unabhängig noch eine besondere psychologische Komponente, die auch bei anderen hoch belastenden Ereignissen eine Rolle spielt.

Welche?

Angelika Treibel: Nehmen wir das Beispiel Suizid eines Angehörigen. Da quälen sich oft Menschen aus dem näheren Umfeld mit schlimmen Schuldgefühlen. Warum ist das so? Das Gehirn sucht immer eine Erklärung für einschneidende Ereignisse. Jede Erklärung ist leichter zu ertragen als das Gefühl, dem Geschehen ohnmächtig ausgeliefert gewesen zu sein.

Indem man sich selbst Schuld zuweist, scheint die Ursache geklärt und es ergibt sich zumindest die Illusion der Kontrolle, die besser auszuhalten ist als das Gefühl der Ohnmacht.

Was können wir als Gesellschaft tun, dass sich die Situation ändert?

Angelika Treibel: So frustrierend das sein mag, aber das Strafrecht allein vermag keine Sexualstraftaten zu verhindern. Ganz häufig steht hier „Aussage gegen Aussage“. Wir müssen uns deshalb kritisch mit unseren Denkweisen und Rollenbildern auseinandersetzen. Schon Kinder sollten ermutigt werden, ihre Grenzen wahrzunehmen und anzusprechen, wenn diese verletzt werden. Es geht bei diesem Thema wirklich um Grundsätzliches.

Wollen wir wirklich Gleichberechtigung?

Worum genau geht es?

Angelika Treibel: Der Punkt ist, wie wir miteinander umgehen. Welche Werte vertreten wir? Wollen wir wirklich Gleichberechtigung? Und welchen Preis wir bereit sind zu bezahlen, wenn wir uns von liebgewordenen Traditionen, Geschlechterrollen und Stereotypen verabschieden? Darüber müssen wir als Gesellschaft ins Gespräch kommen.

Warum erstatten so wenige Betroffene sexueller Gewalt Anzeige?

Angelika Treibel: Das hat verschiedene Gründe. Grundsätzlich gilt: Je enger die Beziehung zwischen Opfer und Täter, desto unwahrscheinlicher ist die Anzeige. Das betrifft vor allem Übergriffe in der Familie, in Beziehungen und im sozialen Nahraum.

Jüngere Betroffene zeigen Übergriffe seltener an als ältere Menschen. Personen, die den Ermittlungen und dem Rechtsstaat vertrauen und von ihrem Umfeld unterstützt werden, zeigen häufiger an als die, bei denen das nicht der Fall ist. Letztlich sind es aber immer individuelle Aspekte, die darüber entscheiden, ob Anzeige erstattet wird oder nicht. Den einen, entscheidenden Faktor gibt es nicht.

Es kann ja auch niemand vorhersagen, wie die Sache ausgeht, oder?

Angelika Treibel: So ist es. Niemand weiß, was nach der Anzeige im Verlauf des Strafverfahrens passieren wird. In dem Moment, in dem sich eine Betroffene an die Polizei wendet, gibt sie die Kontrolle ab. Sie ist nun „Gegenstand“ eines Verfahrens, in dem ihr die Rolle der sogenannten „Opferzeugin“ zugewiesen wird.

Sie wird von Menschen befragt, die sie sich nicht aussuchen kann, muss aussagen. Dieser Schritt will wohlüberlegt sein. Eine Anzeige nach sexueller Grenzverletzung hat immer weitreichende Konsequenzen.

Sexuelle Übergriffe sind ein Massenphänomen.

Wie kann ich einer von sexuellen Gewalt betroffenen Freundin oder Kollegin helfen?

Angelika Treibel: Zuerst einmal zuhören und einfach da sein. Nicht glauben, selbst zu wissen, was die Betroffene braucht, ohne nachgefragt zu haben. Sondern nach den Bedürfnissen fragen, beispielswiese „Was brauchst Du?“ oder „Was kann ich für Dich tun?“

Wichtig kann auch sein, die Betroffene beispielsweise in eine Gewaltambulanz zu begleiten, wo Beweise gesichert werden, ohne dass gleich eine Anzeige erstattet werden muss. Völlig überflüssig sind Bewertungen jeglicher Art und Fragen wie „Warum trennst Du Dich nicht endlich von dem“. Das erhöht nur den ohnehin schon sehr hohen Druck.

Hat sich da gar nichts bewegt in den letzten Jahren?

Angelika Treibel: Doch durchaus. Die „Me Too“-Debatte beispielsweise hat gezeigt, dass sexuelle Übergriffe ein Massenphänomen darstellen, vor dem wir nicht weiter die Augen verschließen dürfen. Da ist eine positive Veränderung im Gang.

Es wird darüber gesprochen, auch an Universitäten und Arbeitsplätzen und im Sport. Der übergriffige Kuss nach dem WM-Sieg der spanischen Fußballfrauen, das wäre vor 30 Jahren noch kein Thema gewesen. Hier ist die Sensibilität deutlich gestiegen.

Was ist den Menschen gemeinsam, die zu Ihnen zur Beratung kommen?

Angelika Treibel: Sie sind alle von einem belastenden Ereignis betroffen und gehen alle ihren höchst eigenen individuellen Weg der Bewältigung. Auch wenn die Fälle ähnlich sein mögen, so muss man jeden Fall einzeln anschauen.

Hilfe für betroffene Frauen:

Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 116 016 und www.hilfetelefon.de (rund um die Uhr)

Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch“: 08002255 530 und www.hilfe-telefon-missbrauch.online

Foto: privat

Dr. Angelika Treibel ist Diplom-Psychologin und leitet seit 2019 eine psychologische Beratungsstelle für Betroffene hoch belastender Ereignisse (BeKo Rhein-Neckar). Bis 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg, von 2005 bis 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sektion Psychotraumatologie der Psychosomatischen Klinik des Uniklinikums Heidelberg. Von 2009 bis 2012 war sie Beraterin im Frauennotruf Heidelberg. Kontakt: mail@angelika-treibel.de

 

 

 

 

 

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