Ein Gastbeitrag von Ingrid Haas
Wer in einem Unternehmen nur die eigenen Interessen verfolgt, ist nachweisbar weniger effizient als andere, die kooperieren. Diese Erkenntnis setzt sich auch langsam in den Unternehmen durch, so die Managerin Ingrid Haas. Sie berichtet aus eigener Erfahrung über das Tauziehen zwischen kurzfristigem Erfolgsstreben und nachhaltiger Betrachtung.
„Um an die Spitze einer Gesellschaft zu gelangen, um in eine Führungsposition zu kommen, muss man von anderen, die eventuell geringere Fähigkeiten haben, für geeignet befunden werden“, sagte einmal der Soziologieprofessor Armin Nassehi aus München. „In der Regel geht der lange Prozess an die Spitze mit so viel Anpassung einher, dass man dann, wenn man oben angekommen ist, die Führungsfähigkeit verloren hat.“
Ein Mensch kommt neu in eine Gruppe. Was passiert? Welche Interaktionen ergeben sich? Wie beeinflusst man sich gegenseitig? Welche Rollen kann der/die Neue in der Gruppe spielen, und welche Parameter bestimmen die möglichen Rollen? Wie kommt man in eine Führungsposition?
Die allererste Situation dieser Art, die wir erleben, ist unsere Geburt in diese Welt und in unsere Familie. Eine sehr wichtige Station ist der Eintritt in das Berufsleben. Bei großen Konzernen machen neue Mitarbeiter zu Beginn oft einen fachlichen und psychologischen Einstellungstest. Daraus wird ein Psychogramm erstellt, es ist wie eine Schublade in die der Neue gesteckt wird. Die Bewertung hat entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung des Kandidaten im Konzern. In der Methodik zur Erstellung des psychologischen Profils stecken die Firmenkultur und die Werte des Konzerns. Welche Eigenschaften eines Menschen sieht man als Führungsqualität an?
Subtile Ausübung von Macht
Nach meinen Erfahrungen setzt hier langsam ein Wertewandel ein. Firmen fangen an, emotionale Empfindsamkeit, Verständnis und die Fähigkeit zum Zuhören als Führungsqualitäten zu erkennen. Es macht sich das Verständnis breit, dass nur Mitarbeiter, die „mit dem Herzen dabei sind“, wirklich produktiv sein können.
Zu Anfang meiner beruflichen Laufbahn galt noch: „Emotionen haben am Arbeitsplatz nichts zu suchen, wir diskutieren hier nur sachlich“. Mehr und mehr erlebte ich dann, beim Besuch von Fortbildungen und in der Auseinandersetzung mit strategischen Personalthemen, dass sich das Denken langsam ändert.
Die Studien des Gallus Institutes über den Prozentsatz der Mitarbeiter, die den Weg der „inneren Kündigung“ gewählt haben, sprechen eine deutliche Sprache. Der Gallup Engagement Index zeigt diese Entwicklung über die Jahre auf. 2016 hatten nur 15 Prozent der Mitarbeiter eine hohe emotionale Bindung an ihr Unternehmen, 70 Prozent eine geringe und 15 Prozent gar keine. Der Weg zu Innovation und Produktivität, zu Konkurrenzfähigkeit am Markt kann nur über engagierte Mitarbeiter führen, die Freude an ihrer Arbeit haben, für die Arbeit mehr ist als „Geld verdienen“.
Bis vor kurzem schien es mir allerdings eher so, als würde primär das, was man umgangssprachlich als „Durchsetzungsvermögen“ bezeichnet, sprich eine gewisse Ellenbogenmentalität, als wesentlicher Aspekt von Führungsqualität betrachtet. Diese Haltung hat in vielen Unternehmen heute noch Priorität, auch wenn man sich Mühe gibt, den Kandidaten ein gesellschaftlich und sozial akzeptables Verhalten („Ellenbogenpuffer“) beizubringen.
Nach außen hin ist man höflich und zuvorkommend, die Ausübung der Macht erfolgt auf subtilere Weise, zum Beispiel durch die Zuweisung bzw. nicht-Zuweisung von Projekten und Aufgaben. Ein weiteres Mittel ist die Akzeptanz bzw. nicht-Akzeptanz in informellen Gruppen oder die Art und Weise der Gesprächsführung beim Mittagessen und anderen, scheinbar rein sozialen Gelegenheiten. Hier lernt der Kandidat, sich anzupassen.
Wer in so einem Kontext menschliche Werte als Teil der Führungsqualitäten fordert, hat es schwer. In einem Konzern lernte ich einen Mitarbeiter auf mittlerer Managementebene kennen, der der Meinung war: „Die neuen Führungsprinzipien sind der größte Blödsinn, den ich je gehört habe!“ Dieser Mitarbeiter war in seinen besten Jahren und wird mithin seinen Einfluss noch für mindestens 20 Jahre ausüben.
In seinem Bereich herrschte eine vordergründig joviale Atmosphäre, zum Teil sexistisch und mit entsprechend ausgewähltem Personal. Eine Nachwuchsführungskraft, ausgewählt nach neuen Prinzipien, würde es in diesem Bereich schwer haben, positive Erfahrungen in der Gruppe zu machen.
Der Chef würde die neue Mitarbeiterin einfach „verhungern“ lassen können, d.h. von interessanten Aufgaben/Projekten ausschließen, wenn sie nicht das gewünschte Verhalten an den Tag legt. Professor Joachim Gerstenmaier aus München sagte einmal in einer Vorlesung über Personalmanagement: „In 80 Prozent der Fälle von Mobbing ist es der Chef, der mobbt“. Der Ausschluss von angemessenen Aufgaben ist die einfachste und, nebenbei bemerkt, völlig legale Art des Mobbens.
„Es gibt viele Mini-Sekten – in Beruf und Familie“
Die Bewertung menschlichen Verhaltens ist ja höchst subjektiv. Aristoteles definierte „Tapferkeit“ als die rechte Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit. Und so wie dem Feigen der Tapfere tollkühn scheint und dem Tollkühnen der Tapfere feige, so könnte ein empfindsamer Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin in einer jovial-sexistischen Umgebung als Mimose eingestuft werden und entsprechend negatives Feedback bekommen. Da das Gefühl der eigenen Selbstwirksamkeit mit zum Aufbau der inneren Führungskompetenz gehört, erleidet der Kandidat hier Rückschläge.
Die Bewertung menschlichen Verhaltens hängt auch von der Erwartungshaltung der Bewertenden ab. Betrachten wir zwei Personen, beide gleichermaßen diskussionsfreudig. Die eine erhielt beim Eingangstest den Stempel ‚Nachwuchsführungskraft‘, die andere nicht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird man die Diskussionsfreudigkeit der Nachwuchsführungskraft als positives kommunikatives Verhalten und Führungsqualität bewerten, bei einem anderen Mitarbeiter als Störfaktor, mangelnde Flexibilität und Festhalten an der eigenen Meinung. So lern man schon früh, wer reden und wer zuhören soll.
In Unternehmen gibt es eine Tendenz, sich ein Umfeld zu schaffen, in dem die Mitarbeiter nicht nur die notwendige fachliche Leistung bringen, sondern auch den emotionalen Bedürfnissen des Chefs Genüge tun. So entstehen kleine Subkulturen, in denen sich die Verhaltensweisen eingeschliffen und stabilisiert haben.
In einem großen Konzern, in dem tausende von Mitarbeitern unter einem Dach sind, ergeben sich durch den Austausch mit den Kollegen aus anderen Abteilungen erhellende Blickwinkel. Man sieht andere Einstellungen und andere (Führungs-) Kulturen, andere Herangehensweisen. Dies wird auch gefördert durch die Architektur neuer Bürogebäude, durch die Einrichtung von offenen Kommunikationsflächen um Kaffee-/Tee-Automaten herum, wo man Kollegen aus verschiedensten Bereichen ungezwungen begegnen kann.
In kleineren Arbeitseinheiten jedoch, die räumlich weit entfernt von der Zentrale sind, können sich regelrechte „Biotope“ entwickeln, geschlossenen Gruppen, in denen es nur eine einzige Sichtweise gibt. Dies erinnert mich an ein sehr interessantes Statement, das mir im Zusammenhang mit dem Thema „Sekten“ begegnete: „Es gibt in unserer Kultur viele Mini-Sekten, im Arbeitsleben und in Familien, in denen elterliche Liebe und Anerkennung nur gegeben wird, wenn das Kind alle Erwartungen der Eltern erfüllt.“
Den „systemkonformen“ Mitarbeitern werden die besten Entwicklungschancen geboten. Dies kann dann zu einer Situation führen, in der man sagt „Wir suchen nach einer Führungskraft, die uns aus der Krise führt. Doch weit und breit ist niemand zu sehen, der herausragt. Alle sind gleichgeschaltet.“
Um solchen Tendenzen entgeg
enzuwirken, wird mittlerweile diskutiert, Führungspositionen auf der mittleren Ebene nur noch für fünf Jahre zu vergeben, ähnlich wie es bei Vorständen der Fall ist. Nach Ablauf dieser Zeit muss man sich eine neue Position suchen.
Das strategische Personalmanagement ist also daran interessiert, eine Umgebung zu schaffen, in der sich Menschen positiv entwickeln können, die neben der fachlichen Qualifikation auch eine charakterliche Qualifikation haben. So können sie sich Zur Führungskraft entwickeln.
Kurzfristiger Erfolg vs. Nachhaltigkeit
Dass nicht nur um kurzfristiges Erfolgsdenken geht, wird auch durch einen Zweig der Wirtschaftswissenschaften untermauert: In der Spieltheorie gibt es das sogenannte „Gefangenendilemma“. Hier geht es um die Frage „Eigeninteressen versus Kooperation“.
Wenn das Verfolgen der Einzelinteressen die dominante Strategie ist, bringt es dem Einzelnen immer einen höheren Gewinn als allen anderen. Das Dilemma besteht jedoch in der Tatsache, dass das Verfolgen des Eigeninteresses nicht effizient ist. Würden sich alle Beteiligten für Kooperation entscheiden, so wäre das erzielte Gesamtergebnis höher.
Nur wenn alle kooperieren, kann das maximal mögliche Ergebnis erzielt werden. In einem Unternehmen ist es die Aufgabe der Führungskraft und eines Teams im politischen Kontext eine Aufgabe der Zivilgesellschaft, dem kurzfristigen Erfolgsstreben und Erfolgsversprechungen entgegenzuwirken und nachhaltige Alternativen zu verfolgen.
Nach meiner Einschätzung ist diese Erkenntnis zumindest in der Theorie des Personalmanagements angekommen. Sie schlägt sich nieder in der Definition einer neuen Führungskultur. In der Praxis ist jedoch oft die Versuchung des kurzfristigen Erfolges sehr groß. Denn wirtschaftliche Ziele müssen jährlich erreicht werden. Werden diese verfehlt, fällt auch die längerfristige Betrachtungsweise flach. Wie formulierte doch einmal ein Vorstand auf einer Betriebsversammlung „Ja, guter Mann, wenn wir Pleite gehen, dann brauchen wir sie nicht mehr zu entlassen“.
Wahre Führungskunst spielt sich in diesem Spannungsfeld zwischen kurzfristigem wirtschaftlichen Druck und langfristiger, nachhaltiger Betrachtungsweise ab. Die Fähigkeit zur positiven Interaktion mit allen Beteiligten gehört dazu.
Inwieweit wir im täglichen Umgang miteinander die dazu notwendigen Fähigkeiten wertschätzen, liegt an uns selbst. Inwieweit wir vielleicht doch lieber jemandem folgen, der alles kann und alles weiß, einen Eindruck der völligen Überlegenheit macht und einfache Lösungen verspricht, liegt an uns selbst.
Auch derjenige oder diejenige, die führen soll, muss die Fähigkeiten und das eigene Vertrauen in diese Fähigkeiten aufbauen. Dies erfolgt über positive Interaktionserlebnisse mit der Umgebung. Somit entscheiden wir selbst darüber, wer später in der Lage sein wird, eine Führungsposition einzunehmen – wir bekommen die Führung, die wir verdienen!
Ingrid Haas
Diplom Mathematikerin und Magister-Abschluss in Philosophie, Politik und Wirtschaft). 35 Jahre berufliche Tätigkeit in einem großen deutschen Konzern, in Stabsabteilungen, als Referentin und Projektleiterin. Langjährige Buddhistin mit Interesse an wissenschaftlichen Themen.