Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Sitzen wie ein Berg

Christof Spitz
Christof Spitz

Meditationsanleitung von Michaela Doepke

In Zeiten innerer und äußerer Krisen ist die Bergmeditation besonders stabilisierend. Die Meditationslehrerin Michaela Doepke gibt im Folgenden eine Anleitung dazu. Sie zeigt, wie wir inmitten von Gedankenstürmen und emotionalem Aufruhr zur Ruhe kommen, innere Ressourcen stärken und Resilienz entwickeln können. Mit Audio-Datei!

Viele Menschen fühlen sich aufgrund der permanenten Veränderungen in diesen herausfordernden Zeiten bedroht, verunsichert oder verängstigt. Aber wer ständig davonläuft, kann keinen inneren Frieden finden. Nur wenn wir innehalten, begegnen wir dem Leben, wie es gerade ist, und können lernen, mit emotionalen Stürmen auf achtsame Weise umzugehen.

Es gibt einen Ort, den wir dann aufsuchen können und an dem wir zu Hause sind. Dieser befindet sich in uns selbst. Hier können wir zur Ruhe kommen. Von Zeit zu Zeit ist es daher ratsam, sich auf das Meditationskissen zu Hause zu setzen und den inneren Raum zu bewohnen, damit wir uns unser selbst und unserer Kräfte bewusst werden können.

Selbstverständlich ist es möglich, bei der Meditation auf einem Stuhl oder einem Bänkchen zu sitzen. Aber besonders unterstützend ist es bei der Bergmeditation, die klassische Meditationshaltung einzunehmen: auf dem Boden, die Füße voreinander gelegt, so dass Gesäß und die Knie ein Dreieck bilden.

Der Rücken ist gerade aufgerichtet, aber nicht verkrampft und in einer entspannten Haltung. Die Hände liegen locker auf den Oberschenkeln und der Blick ist leicht abgesenkt oder die Augen geschlossen, wenn das angenehm ist. Im Folgenden wird bei der Anleitung das „du“ in der Anrede gewählt.

Sie können die Meditation hören oder beim Meditieren dem Text folgen.

Anleitung zur Bergmeditation

Sich zunächst sanft einstimmen und sich einladen, bewusst im Hier und Jetzt anzukommen und auf dem Mediationskissen zu ruhen.

Den Kontakt der Füße mit dem Boden spüren und sich mit dem ganzen Gewicht auf der Erde niederlassen, die dich trägt. Spüren, wie der Atem sanft und mühelos in den Körper ein- und wieder ausströmt.

Es gibt jetzt nichts zu tun, nichts zu leisten. Sich erlauben, vom Tun ins Sein zu kommen und ins Sein zu sinken. In dir ruhen mit der Absicht, jetzt bin ich hier, präsent in meinem Körper.

Und wenn du möchtet, dann stelle dir jetzt vor deinem inneren Auge einen Berg vor. Vielleicht deinen Lieblingsberg, auf dem du in deiner Freizeit gerne wanderst oder einen Berg auf einem Foto oder einem Gemälde. Wie sieht er aus? …In welche Landschaft ist er eingebettet? Welche Eigenschaften verkörpert dieser Berg für dich?

Vielleicht sind es Stabilität, Kraft, Stille, vielleicht Ruhe, Präsenz, Würde oder Festigkeit? Und dann verbinde dich mit diesen Qualitäten und Eigenschaften und stelle dir vor, du bist selbst dieser Berg.

Deine Beine, dein Gesäß und die Füße bilden das Fundament deines Berges, fest und sicher verankert in der Erde.

Arme, Vorderseite und Rückseite des Körpers bilden die abfallenden Hänge des Berges, der Kopf den Gipfel.

Sitzen in einer ganz bewussten, würdevoll aufgerichteten majestätischen Haltung. Und mit jedem Atemzug ein wenig mehr zum Berg werden. Du bist der atmende Berg. …

„Einatmend bin ich der Berg, ausatmend bin ich fest und stabil“

Du bist der Berg, der hier fest und stabil steht inmitten aller Veränderungen. Tag folgt auf Nacht, Sonne auf Mond, der Sternenhimmel über dir.

Mal ist es neblig, mal herrscht klare Sicht, mal stürmt, mal regnet es. …Doch nichts erschüttert den Berg in seiner majestätisch würdevollen Haltung, nichts bringt ihn aus der Ruhe. Er steht hier still inmitten des Wetters, das sich ständig verändert um ihn herum und bleibt er selbst.

Im Sommer grünt es auf seinen Hängen. Vielleicht gehen Wanderer auf ihm spazieren und bewundern seine Schönheit. Die Vögel zwitschern in den Bäumen. Gämsen tollen auf dem Gipfel herum.

Im Herbst steht der Berg in flammenden Feuerfarben. Im Winter bedeckt ihn ein Mantel aus Eis und Schnee. Im Frühling taut der Schnee, das Eis schmilzt, das Schmelzwasser schießt zu Tal. Blumen wie das Edelweiß spitzen zart aus der Eisdecke hervor und recken sich dem Sonnenlicht entgegen. Und alles beginnt im Kreislauf der Natur von Neuem zu blühen und zu grünen.

Doch während sich die Jahreszeiten und das Wetter ständig verändern, bleibt der Berg stets der Berg. Nichts erschüttert ihn, nichts bringt ihn aus der Ruhe. Er ist sich seiner Stabilität und seiner Kraft bewusst.

Und manchmal ziehen Gedankenwolken heran. Er sieht sie an, wie sie kommen und gehen, entstehen und vergehen. Eine Gedankenwolke folgt stets der nächsten …und das lässt sich gar nicht stoppen. Aber er ist sich gewahr, die Gedanken haben gar keine Realität, sie sind wolkengleich. Es sind nur Geschichten, die wir uns selbst erzählen.

Gedanken verursachen viel Leid, wenn du sie festhältst, wenn du an die Macht der Gedanken und ihre Realität glaubst. Aber du bist der Berg und schaust aus der Distanz den Gedankenwolken zu, ohne danach zu greifen.

Du ziehst sie nicht an dich heran. Du schiebst sie nicht weg. Du beobachtest nur ihr Entstehen und Vergehen, wie sie heranziehen, eine Weile bleiben und sich dann in der Ferne wieder auflösen. Unaufhörlich.

Umgang mit Gefühlsstürmen

Und so auch die Emotionen, die manchmal heranziehen wie schwarze düstere Gewitterwolken. Auch sie entstehen, vergehen, kommen und gehen, verändern sich. Manchmal gibt es auch in unserem Leben emotionale Stürme. Und diese sind wie Donner oder Hagel, die auf uns einprasseln. Starke Stürme und Winde, die unseren Gipfel umtosen …

Und wenn diese Stürme zu heftig sind, dann kannst du dich auch immer wieder in dein Inneres zurückziehen, in deine innere Bergeshöhle, in deine Felswände, wo du dich geborgen, geschützt und sicher fühlen kannst.

Hier kannst du zur Ruhe kommen, innehalten und dem Atem lauschen, dich beim Atem als deinem sicheren Anker beruhigen und zentrieren. …und dich unterhalb des fließenden Atemrhythmus mit der Stille verbinden. Und du kannst dem Atem vertrauen, dem Leben vertrauen, das für dich sorgt, ohne dass du irgendetwas tun musst.

Und wenn sich die Stürme wieder gelegt haben, dann kannst du den Blick wieder entspannt nach außen wenden. Und du weißt, dass hinter den schwarzen Gewitterwolken stets die Sonne für dich scheint. Und du verbindest dich mit der unendlichen Weite des klaren blauen Himmels, der ist wie der grenzenlose Bewusstseinsraum.

Das Gewahrsein nun öffnen und alles willkommen heißen, was jetzt in deinen Bewusstseinsraum eintreten will. Sich dabei erlauben, in diesem Prozess des wertfreien Erlebens ganz wach und präsent zu bleiben und im weiten Raum des Gewahrseins zu verweilen, der größer ist als deine Angst, deine Sorgen.

Und du weißt, Gedanken und Gefühle kommen und gehen. Du musst dich nicht mit ihnen identifizieren. Aber du, du bleibst. Du bist der Berg, der atmet. Und du lauschst deinem Atem…von Moment zu Moment…von Sekunde zu Sekunde…

Stabilität in sich selbst finden

Ganz allmählich löst du dich wieder von dem Bild des Berges, kommst mit der Aufmerksamkeit wieder in den eigenen Körper zurück, spürst bewusst die Köpergrenzen.

Und vielleicht magst du im Alltag, wenn dich emotionale Stürme aus dem Gleichgewicht bringen, die Bergmeditation praktizieren. Und dich immer wieder an die Eigenschaften des Berges erinnern, die auch in dir wohnen und dem inneren Tumult künftig mit einer Haltung von Würde, Ruhe, Gleichmut und Gelassenheit begegnen.

So kannst du inmitten von stürmischen Zeiten allmählich Stabilität und Sicherheit in dir selbst finden, dich auf deine inneren Kraftquellen von Präsenz, Stärke und Festigkeit besinnen.

Wenn du innehältst, dich auf das Meditationskissen setzt, ist es möglich, deinen inneren Raum zu bewohnen, Bewusstheit zu kultivieren und bei dir selbst zu Hause zu sein. So kannst du gestärkt dem sich ständig wandelnden Leben begegnen im Wissen, dass emotionale Stürme vergänglich sind wie das sich ständig wandelnde Wetter im außen. Und dich zuletzt einladen, ein paar Momente in Stille zu ruhen, bevor du die Meditation beendest.

Auch interessant:

Unsplash

“Achtsam leben im Lockdown” – Zehn Übungen für den Alltag

Tipps von Michaela Doepke für einen achtsamen Alltag – vom Aufstehen am Morgen über achtsame Pausem am Tag bis hin zum Einschlafen mit heilsamen Gedanken.

 

 

 

 

Foto: Joel Heyd

Michaela Doepke ist Journalistin und Redakteurin im Netzwerk Ethik heute, Dozentin, Buchautorin, MBSR- und Meditationslehrerin in Unternehmen, im Gesundheitsbereich und in Kindergärten. Sie lebt und arbeitet am Ammersee in Bayern, hat erwachsene vier Kinder und zwei Enkel. Ihr Anliegen ist es, Achtsamkeit und Ethik in die Gesellschaft zu integrieren und Menschen einfühlsam zu unterstützen. Mehr: www.michaela-doepke.de

Hinweis: Anleitung zur Bergmeditation in Anlehnung an: Jon Kabat-Zinn und Ulrike Kesper-Grossmann, Die heilende Kraft der Achtsamkeit, Arbor Verlag

 

Shutterstock

Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Kategorien