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Soll man Bettlern etwas geben?

Ronald Rampsch/ Shutterstock
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Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zum Thema Freigebigkeit auf: “Ich werde häufig von Bettlern um Geld gebeten. Jedes Mal etwas geben ist zu viel. Gar nicht reagieren fühlt sich auch falsch an. Was tun?“

Frage: Ich bin viel unterwegs, vor allem in Städten und an Bahnhöfen und werde häufig von Bettlern um Geld gebeten. Wie soll ich damit umgehen? Jedes Mal Geld geben – das ist zu viel. Essen geben – zu viel Aufwand. Gar nicht reagieren, weil es zu viele sind? Das fühlt sich nicht gut an. Ich weiß, dass es in europäischen Städten auch organisierte Bettlergruppen gibt; das will ich nicht unterstützen. Was würden Sie raten?”

Jay Garfield: Eigentlich stellen Sie zwei Fragen: Was soll ich tun? Wie soll ich mich fühlen? Und die Antworten darauf können widersprüchlich sein.

In solchen Situationen ist es wichtig, zwei Perspektiven im Blick zu haben: die eigene moralische Reaktion im Hinblick auf andere sowie die Frage, wie man in einer unglücklichen Situation am geschicktesten eingreifen kann.

Beginnen wir mit der ersten Frage. Sie haben Recht, wenn es sich für Sie nicht richtig anfühlt, überhaupt nicht zu reagieren. Das Schlimmste, was einem selbst bei der Begegnung mit menschlichem Elend passieren kann, ist, dass man sein Herz verschließt und seine Mitmenschlichkeit, Verbundenheit und Fürsorge verliert. Das ist wirklich gefährlich.

Eine Haltung der Fürsorge einnehmen

Ja, man muss reagieren, und man muss auf seine eigenen Reaktionen achten. Menschen, die betteln, haben sich nicht für die Umstände entschieden, die sie zu solcher Handlung zwingen. Sie könnten psychisch krank sein oder Opfer von Menschenhandel. Keiner von ihnen hat ein glückliches oder angenehmes Leben, und keiner bittet gerne um Almosen.

Es wäre unangebracht, mit Wut oder Gleichgültigkeit zu reagieren. Man sollte eine Haltung der Fürsorge und Mitmenschlichkeit einnehmen. Auch gilt es, sich bewusst zu machen, dass man selbst Glück hatte, nicht so leben zu müssen wie die Obdachlosen auf den Straßen.

Ein freundliches Wort etwa kann viel bewirken, die Menschen fühlen sich gesehen. Stellen Sie sicher, dass das Elend der Obdachlosen Sie nicht unbarmherzig werden lässt. Das ist das erste.

Obdachlosen-Initiativen unterstützen

Aber was sollte man dann tun? Wie kann man am besten und effektivsten dazu beitragen, das Elend auf den Straßen zu lindern? Sie haben Recht, dass es in vielen Fällen falsch sein könnte, Geld zu geben. Vielleicht wandert es an die Menschenhändler, die hinter den Bettlern stehen. Oder es kann in den Kauf von Drogen oder Alkohol fließen, so dass die missliche Lage aufrechterhalten wird.

Es ist besser, einem Menschen, der auf der Straße lebt, mit Essen zu versorgen, falls das möglich ist. Generell aber müssen wir einsehen, dass wir als Einzelne nur sehr wenig tun können, um ihre Situation zu verbessern. Ihr Geld könnte besser angelegt sein, wenn Sie es an eine Organisation spenden, die sich professionell für benachteiligte Menschen einsetzt, z.B. an eine Unterkunft, eine Tafel oder eine Nicht-Regierungsorganisation, die Obdachlosen hilft.

Umsichtiges Spenden bedeutet, dass Sie darüber nachdenken, wo Ihre Gabe am meisten Gutes bewirkt und dass Sie sicherlich nicht spenden, wenn dadurch Schaden angerichtet würde.

Mein Rat ist also, dass Sie freundlich reagieren und sich dazu entschließen, zu helfen, aber indem Sie eine professionelle Wohltätigkeitsorganisation einschalten. Es ist ebenfalls wichtig, dass Sie sich auf kommunaler Ebene für eine Politik einsetzen, die benachteiligten Menschen langfristig hilft.

Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org

 

Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick
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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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