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Ethische Alltagsfragen
In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zur Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar auf: “In Katar werden die Menschenrechte verletzt, wir hören von Zwangsarbeit und Ausbeutung. Ist es überhaupt ethisch vertretbar, die Spiele anzuschauen, oder sollten wir die WM 2022 boykottieren?”
Frage: Die Fußballweltmeisterschaft 2022 findet in Katar statt, einem Land, das die Menschenrechte verletzt. Um die Stadien zu bauen holte man Hundertausende Arbeitsmigranten aus Asien und Afrika ins Land. Wir hören von ungeklärten Todesfällen, Zwangsarbeit und Ausbeutung. Ist es für Fußballfans überhaupt ethisch vertretbar, die Spiele anzuschauen? Oder sollten wir Zuschauer die WM 2022 boykottieren?
Jay Garfield: Das ist eine wichtige Frage, die ich in einen größeren Kontext stellen möchte, etwa den des Reisens in Länder, die eine schädliche Politik verfolgen. In meinem Fall kann ich als Beispiel die USA anführen, die kürzlich restriktive Abtreibungs- und Wahlrechtsgesetze verabschiedet haben.
Man erinnere sich an den Boykott Südafrikas während der Apartheid. Ist es jetzt in Ordnung, Myanmar zu besuchen? China? Ungarn? Rechtfertigt das französische Verbot des Hidschabs einen Boykott Frankreichs?
Ein Argument lautet: Wenn man ein Land bereist, ist man grundsätzlich bereit, es mit seiner Anwesenheit und seinem Geld zu unterstützen, und bestätigt symbolisch, dass es Teil unserer größeren Gemeinschaft ist und nicht gemieden werden muss. Dies ist für unseren Fall Katar in gewisser Weise relevant, denn wer zuschaut, trägt dazu bei, dass Einnahmen generiert werden, die Katar zugute kommen.
Das zweite Argument für einen Reise-Boykott ist, dass Reisen in solche Länder eine implizite öffentliche Billigung (oder zumindest Nicht-Verurteilung) ihrer Politik bedeuten. Dieses Argument gilt nicht für das Anschauen der Fußballweltmeisterschaft im Fernsehen, es sei denn, man organisiert eine große Party oder eine öffentliche Veranstaltung. In diesem Fall könnte es durchaus zum Tragen kommen.
Die Dinge sind nicht so einfach…
Weiter gebe ich zu bedenken: Wir unterstützen eine Reihe von Institutionen indirekt, auch ohne unsere Zustimmung. Mit unseren Steuern, dem Kauf von Produkten der Unternehmen, die im Fernsehen werben, und den Gebühren für Fernsehdienste tragen wir zur Finanzierung der Fußballweltmeisterschaft, der FIFA und Katar bei. Ein Teil dieser Gelder fließt direkt oder indirekt in diese Richtung.
Manchmal ist dies in der modernen Welt unvermeidlich. Wenn ich Steuern zahle, finanziere ich bestimmte Regierungsprogramme, mit denen ich nicht einverstanden bin, manchmal auch moralisch zweifelhafte Unternehmen, die Steuersubventionen erhalten, und ausländische Regierungen, deren Politik ich vielleicht missbillige.
Es ist praktisch unmöglich, in der modernen Welt nicht an der Unterstützung unmoralischer Praktiken beteiligt zu sein. Wenn Sie der Meinung sind, dass wir keine Staaten unterstützen sollten, die Sie für unmoralisch halten, und wenn Sie glauben, dass das katarische Regime diese Grenze der Unmoral überschreitet, dann wäre das ein Grund, die Fußballweltmeisterschaft nicht zu sehen, weder privat noch öffentlich.
Trotzdem müssen wir uns fragen: Überschreitet das katarische Regime diese Grenze? Dazu gibt es verschiedene Auffassungen. Nehmen wir die Behandlung der Arbeitsmigranten. Feststeht, dass diese in Katar ausgebeutet werden. Die Rechte dieser Arbeitnehmer liegen weit unter denen in Europa oder den USA.
Dies ist eine ernste Angelegenheit, und viele würden argumentieren, dass dies einen Boykott Katars und das Schauen der Spiele mehr als rechtfertigt.
Aber die Dinge sind nicht so einfach: Wanderarbeiter in Katar werden nicht viel anders behandelt als Arbeiter in Singapur oder anderswo im Persischen Golf, gar nicht zu reden über Arbeiter in vielen Ländern des Südens wie Indien, Pakistan, Bangladesch oder Afrika.
Somit gäbe es viele Länder, die man boykottieren sollte, wenn man überzeugt ist, dass diese Ausbeutung ein Grund für einen Boykott ist und nicht nur für eine Distanzierung oder Verurteilung.
DIE WM ist ein Luxus, keine Notwendigkeit
Was bedeutet das nun für die Bewertung Ihrer Frage? Einerseits könnte man sagen, dass wir nicht jedes Land mit ausbeuterischer Arbeitspolitik meiden können, also sollten wir keines boykottieren.
Vielleicht gibt es aber auch einen Mittelweg. Man könnte anführen, dass es zwar unmöglich ist, ein Land vollständig zu boykottieren, etwa weil es zu sehr in unsere Lieferketten verstrickt ist. Aber zumindest könnten wir Waren aus diesem Land meiden, die wir am wenigsten brauchen oder die am engsten mit schädlichen Praktiken verbunden sind.
So können wir vielleicht nicht auf elektronische Geräte oder Komponenten dafür aus China verzichten, weil sie in allem, was wir benutzen, enthalten sind. Aber wir können Baumwolle vermeiden, die mit uigurischer Zwangsarbeit hergestellt wird.
Wer dieses Kriterium anlegt, sagt damit: Die Fußballweltmeisterschaft ist ein Luxus und keine Notwendigkeit, und die Ausbeutung im Zusammenhang mit der Weltmeisterschaft ist so gravierend, dass wir uns die Spiele nicht anschauen. Das ist eine vernünftige Entscheidung.
Aber man könnte auch sagen, dass Katar nur ein Beispiel von vielen ist. Dann wäre zu fragen, welche Maßstäbe wir für einen Boykott generell anlegen und wo wir eine Grenze ziehen. Diese Frage ist extrem schwer zu beantworten.
Sie sehen schon, ich beantworte Ihre Frage nicht eindeutig, sondern gebe Ihnen einige Anregungen, wie Sie für sich selbst eine Antwort finden können. Gleichzeitig gehe ich davon aus, dass vernünftige Menschen in dieser Frage unterschiedlicher Meinung sein können.
Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org
- Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick
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