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Sommer 2021: Jugendliche im Aufbruch

austin-distel/ unsplash.com
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Gedanken von Ina Schmidt

Die Corona-Krise hat vor allem die Jugendlichen vor große Herausforderungen gestellt. Doch viele sind in der Krise innerlich gewachsen, haben kreativ Neues ausprobiert und die Unsicherheit gemeistert. Ina Schmidt über eine junge Generation, die zeigt, wie anpassungsfähig Menschen sein können.

Sommer 2021: Langsam normalisiert sich das Leben wieder, Menschen sehnen sich nach dem zurück, was einmal war. Doch wie sieht es mit den Jugendlichen aus, die gerade aufbrechen in ein neues Leben, die ihr Abitur geschafft oder den Ausbildungsplatz in der Tasche haben? Aufbruchsstimmung oder große Sorgen?

Haben wir es mit einer „Lost Generation“ zu tun und was macht ein solches Jahr der Pandemie mit dem Gefühl von Zukunft? Studien registrieren dramatische Einbrüche in der Bildung, frustrierte, depressive und enttäuschte Kinder und Jugendliche; ganz sicher ist die Lage alles andere als einfach, zumindest für einen Teil der jungen Menschen. Und trotzdem gibt es auch Lichtblicke.

In Hamburg sind im Frühsommer 2021 die Abiturjahrgänge verabschiedet und geehrt worden – 2021 ein Notabitur? Ein Abschluss unter erleichterten Bedingungen, für das man in Zukunft eher belächelt werden wird? Ganz sicher nicht.

Eher ein Abschluss, der zeigt, dass Menschen anpassungsfähig, kreativ und selbstständig arbeiten können, sich neue Lösungen und Kommunikationsformen überlegen und damit – zumindest am Hamburger Gymnasium Lohbrügge – einen besseren Schnitt hinlegen als die Jahrgänge vor ihnen. Und das lag nicht daran, dass die Lehrer beide Augen zugedrückt hätten, sondern am Engagement der meisten Schülerinnen und Schülern, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Auch die Abschlussfeier zeigte einiges von diesem Engagement. Unter freiem Himmel, bei strahlendem Sonnenschein sangen ehemalige und frisch gebackene Abiturienten ein Repertoire an hoffnungsvollen Liedern – dieses Jahr in kleinen Ensembles und nicht vom Schulchor und der Bigband, aber das machte die Stimmung nicht weniger besonders. Die Reden der Schulsprecher waren von dem Wunsch nach einem eigenen und neuen Weg getragen.

Experiment: Erlernte Hilflosigkeit

Der Schulleiter verabschiedete seine Abiturienten mit einem Gleichnis. Er berichtete von einem psychologischen Experiment, das Ende der 1960er Jahre von dem amerikanischen Psychologen Martin P.E. Seligmann mit Hunden durchgeführt wurde.

Ein solches Experiment kann man sicher kritisch diskutieren, auch die Frage, ob das Verhalten von Hunden etwas mit dem von Menschen zu tun hat, aber es geht um einen wichtigen Gedanken.

Das Experiment wurde unter der Überschrift der „erlernten Hilflosigkeit“ bekannt. Was ist damit gemeint? Experimentiert wurde mit drei Gruppen von Hunden, denen in einer geräumigen Box leichte Stromschläge verabreicht wurden, unangenehm, aber nicht gefährlich.

Die erste Gruppe bekam die Möglichkeit, durch das Betätigen eines Hebels die Stromschläge abzustellen, die zweite Gruppe musste die Stromschläge erdulden, die dritte blieb von den Stromschlägen verschont.

Die dritte Gruppe hatte keinerlei Grund, sich irgendwie zu verhalten, für sie war die Welt in Ordnung. Die zweite Gruppe musste ihr Los ertragen . Die erste Gruppe lernte erstaunlich schnell, dass sie selbst dafür sorgen konnte, die Stromschläge zu vermeiden.

Nach einer Pause wurde das Experiment wiederholt. Dieses Mal wurden allen drei Gruppen leichte Stromschläge zugemutet. Die Hunde erhielten aber die Möglichkeit, die Boxen zu wechseln und auch dadurch den Stromschlägen zu entgehen. Wie verhielten sich die Tiere?

Die Gruppe, die zuvor keinerlei Beeinträchtigung hatte ertragen müssen, brauchte eine Weile, bis sie verstand, dass sie ihr Los ändern konnte. Die Gruppe, die vorher gezwungenermaßen ihre Lage aushalten musste, tat es auch dieses Mal und unternahmen keinerlei Anstrengungen, etwas zu verändern. Die Hunde verharrten in einer Starre der „erlernten Hilflosigkeit“.

Die erste Gruppe aber, die schon vorher gelernt hatte, dass eigene Mühen etwas bringen, wechselte binnen kurzer Zeit die Box und befreite sich aus der misslichen Lage.

Dieses Bild ist nicht einfach zu übertragen, und wir alle halten nichts davon, Lebewesen zu Experimentierzwecken Leid zuzufügen. Dennoch gibt es auch für uns Menschen dieses Leid, das wir nicht immer beeinflussen können. Experimente können beendet, verboten und abgeschafft werden, aber die Not, die das Leben mit sich bringt, werden wir nicht verhindern können.

Das Erwachsenenleben krisenfest beginnen

Was genau hat das mit der Pandemie und unseren Abiturientinnen und Abiturienten zu tun? Das, was die Krise uns allen, gerade auch jungen Menschen zugemutet hat, war leidvoll, für manche kaum zu ertragen und mit Verlusten verbunden. Gleichzeitig erlebten wir auch eine Zeit des Umdenkens und der Besinnung.

Welche Hebel und Knöpfe hatten wir zur Verfügung, um dem zu entgehen bzw. das Beste aus unserer Lage zu machen? Viele Jugendliche mussten genau das erst noch herausfinden. Sie haben selbst dazu beigetragen, solche Hebel zu finden und zu nutzen.

Sie haben gemeinsam mit Lehrer:innen und Eltern innovative Kommunikations- und Lernformate ausprobiert. Sie haben sich auf Unsicherheiten eingelassen und improvisiert, wenn es nicht anders ging.

Die 110 Abiturienten, die ich letzte Woche im strahlenden Sonnenschein erlebt habe, kamen aus den unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Lebenswelten, aber sie alle strahlten Mut und Stärke aus, am Anfang eines Weges, den sie krisenfester antreten können als so mancher Jahrgang vor ihnen.

So manches von dem hätten wir ihnen gern erspart. Eine Welt ohne Stromschläge ist das, was wir eigentlich wollen, ganz egal ob für Menschen oder jedes andere Lebewesen. Aber manchmal kann man dem Leiden nicht entgehen. Und dann kommt es darauf an, nicht in Hilflosigkeit zu verharren, sondern zu wissen, wie man Knöpfe drückt und Hebel baut – für sich und andere, auch um sie aus erstarrten Strukturen zu befreien.

Und diese Generationhat es geschafft, damit anzufangen. Sie hat erste Schritte getan und gibt sich nicht mehr mit dem zufrieden, was immer schon so war. Vielleicht können die jungen Menschen uns den Weg zeigen, wie eine Zukunft aussehen kann, die anders ist, als erwartet. Die offen und sicher nicht leicht zu meistern ist und für die so manche Antwort erst noch gefunden werden muss. Aber das heißt auch, dass sie die Welt ein wenig besser machen kann.

Foto: Gaby Bohle

Dr. Ina Schmidt studierte Kulturwissenschaften und Philosophie. 2005 gründete sie die denkraeume, eine Initiative für philosophische Praxis. Sie ist Buchautorin, Lehrbeauftragte der Professional School an der Leuphana Universität und Referentin u.a. für das Netzwerk Ethik heute. Ina Schmidt lebt mit ihrem Mann und ihrer Familie in Reinbek bei Hamburg.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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