„Colored Glasses“: Workshops für Schüler von Schülern
Antirassismus-Trainings in Schulklassen zur interkulturellen Verständigung liegen voll im Trend. Bei den Workshops „Colored Glasses“ sind die Durchführenden selbst engagierte Schülerinnen und Schüler und vermitteln Inhalte schülernah.
Vor Beginn des Unterrichts fragt ein Schüler, ob jetzt wohl „die Hippies zu Besuch kommen“. Das spiegelt die allgemeine Stimmung in der Klasse wieder. Als die Glocke zum Schulbeginn ertönt, erleben die Schülerinnen und Schüler der Klasse 8c des Goethegymnasiums München einen etwas anderen Schultag. Heute stehen nicht Geografie oder Mathematik auf dem Stundenplan, sondern „Toleranz“, „Rassismus“ und „interkulturelle Verständigung“.
„Wir sind doch tolerant. Bei uns gibt’s sowieso kein Problem mit Rassismus“, lautet der allgemeine Tenor – oft auch bei den Lehrern. Dennoch hat sich die Klassenleiterin Frau Schmidt entschlossen, das Bildungsangebot „Colored Glasses“ des gemeinnützigen Schüleraustauschvereins YFU (Youth For Understanding) in Anspruch zu nehmen. YFU organisiert seit über 50 Jahren Jugendaustauschprogramme weltweit. Der Name „Colored Glasses“ steht für die jeweils kulturspezifische Prägung, symbolisiert durch farbige Brillen, die jeder Mensch seit Geburt trägt.
Im Rahmen dieser Initiative besuchen geschulte Ehrenamtliche – meist Schüler, die selbst schon mal zum Austausch im Ausland waren, – Schulklassen. Engagiert erarbeiten die Teamer, wie sie sich selbst nennen, mit den Schülern in lebendigen Tagesworkshops Themenbereiche wie „Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung“.
Rollenspiel zum Thema „Kultur“
Bei der Klasse 8c steht heute das Thema „Kultur“ auf dem Stundenplan. Die ehrenamtlichen Leiter des Workshops „Colored Glasses“ bezeichnen sich als „Teamer“, um damit das gewohnte Schüler-Lehrer-Verhältnis aufzulockern. Sie geben einen Überblick über den Ablauf: Rollenspiel, Gruppenarbeit, unterbrochen von Pausen.
Was die Schüler nicht wissen: Es geht eigentlich nicht um das Spiel, sondern eine Simulation, die den Schülerinnen und Schülern bewusst machen soll, wie schwierig es sein kann, sich in einer anderen Kultur und in einem fremden Land zurecht zu finden. Dafür wird die Klasse zunächst in zwei Gruppen aufgeteilt.
Dann geht es los. Überraschend werden einzelne Schülerinnen und Schüler unter den zwei Gruppen ausgetauscht. Jede übt für sich zunächst die Regeln ihrer jeweiligen „Gruppen-Kultur“ ein. Die eine Hälfte übernimmt die Rolle einer auf höfliche und ethische Umgangsformen und Dialoggespräche bedachten Gesellschaft, die zweite Hälfte hat sich den Regeln einer auf Gewinnmaximierung und Effektivität ausgerichteten Kultur verschrieben.
Die Verständigung untereinander wird dadurch erschwert, dass die zweite Gruppe nur eine Fantasiesprache verwendet, die auf die Bedürfnisse einer Profit-Gesellschaft abgestimmt ist.
Den Eisberg von unten betrachten
Die Teamenden haben der Lehrerin die Idee schon vorher erklärt. Sie berichten dann über ihre Erlebnisse in der „fremden Kultur“.
„Ich hab die anderen gar nicht verstanden! Das war voll nervig…“, meint Jonas in der dann folgenden Austauschrunde. Marie, die die Ausgetauschten als Gastgeberin wahrgenommen hat, kann Ähnliches berichten: „Ich wusste nicht, was die von uns wollen.“ Um Licht ins Dunkel zu bringen, lösen die Teamer die Simulation auf und leiten zum Kulturbegriff über.
„Wisst ihr, es ging die ganze Zeit gar nicht um das Spiel, sondern um eure Erlebnisse in einer ‚fremden Kultur‘. Aber was ist das eigentlich, Kultur?“, fragt Colored-Glasses-Teamer Max. Auf diese Frage weiß die Klasse 8c zunächst keine Antwort. Doch nach und nach kommen Ideen. Die Teamer notieren die Begriffe und gestalten sie räumlich in Form eines Eisbergs an der Tafel – ein Bild dafür , dass man nicht alles, was zu einer Kultur gehört, auf den ersten Blick sehen kann. Um den größten Teil einer Kultur wirklich kennen zu lernen, müsse man erst untertauchen und sich den Eisberg von unten ansehen.
Die Schüler verstehen. In der Feedbackrunde kommentiert Lena: „Man darf eben nicht nur die Spitze des Eisbergs sehen.“ und Tom fügt hinzu: „Ich finde es gut, dass ihr euch für uns Zeit genommen habt!“
Ein Beitrag zur Chancengleichheit
Es ist nicht selbstverständlich, dass sich junge Menschen Zeit nehmen und sich ehrenamtlich für so ein aufwändiges Projekt wie „Colored Glasses“ engagieren. Großer Einsatz ist nicht nur bei der Durchführung der Workshops, sondern auch der ausführlichen Vor- und Nachbereitung gefragt. Das Workshopteam besteht immer aus älteren, erfahrenen Teamenden und Nachwuchskräften. Dieser Mix eröffnet auch für die Teamer neue Perspektiven im Hinblick auf Themen und Methoden.
Die Motivation für so ein Engagement ist vielfältig. So findet z. B. die erfahrene Teamerin Lisa: „Es ist wahnsinnig spannend, YFU-Inhalte an vielen Schulen vermitteln zu können. Auf diese Weise habe ich nicht nur mit dem kleinen privilegierten Teil der Jugendlichen zu tun, die tatsächlich ein Austauschjahr machen.“ Für Robert geht es eher darum „einen Beitrag zur Chancengleichheit in Deutschland zu leisten – auch wenn der noch so klein ist“.
Bei der Klasse 8c geht am Tag nach dem Workshop der Schulalltag weiter. Die Schülerinnen und Schüler haben wieder Deutsch, Englisch und Biologie. Trotz des „Colored-Glasses“-Projekts wird es auch weiterhin in der Klasse nicht immer tolerant zugehen. Der Anspruch des Projekts ist nicht, die Welt auf einen Schlag zu verändern, sondern eine Sensibilisierung der Klassengemeinschaft für bestimmte Themen. Wenn auch nur ein Schüler oder eine Schülerin in einer für Menschen diskriminierenden Situation aufsteht und handelt anstatt wegzusehen, dann ist dieses Ziel bereits erreicht. Dann hat „Colored Glasses“ seinen kleinen Beitrag geleistet.
(Die Namen von Schülerinnen und Schülern, Schulen und Bezeichnungen von Klassen wurden von der Redaktion geändert.)
Matthias Melcher, YFU-Teamer, 20 Jahre
Mehr Informationen
Weitere Informationen zu Colored Glasses und Buchungsanfragen für Workshops unter www.coloredglasses.de
Das Deutsche Youth For Understanding Komitee e.V. (YFU) organisiert seit über 50 Jahren langfristige Jugendaustauschprogramme weltweit. Zusammen mit Partnerorganisationen setzt sich YFU in mehr als 40 Ländern für Toleranz und interkulturelle Verständigung ein. Seit der Gründung im Jahr 1957 haben insgesamt rund 60.000 Jugendliche an den Austauschprogrammen teilgenommen. YFU ist ein gemeinnütziger Verein und als Träger der freien Jugendhilfe anerkannt.