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Suche nach der indigenen Weisheit

Berend Leupen/ Unsplash
Berend Leupen/ Unsplash

Begegnung mit Indigenen in Südamerika

Die indigene Lebensweise steht für ein Leben im Einklang mit der Natur. Sonja Kloss machte sich auf nach Südamerika, um von den Indigenen zu lernen. Ihre Erfahrungen waren anders als erwartet. Neben großem Respekt vor der Natur gibt es Entfremdung, Abschottung und das Streben nach westlichem Lebensstandard.

Eine tiefe Sehnsucht nach der Welt und dem Kontakt mit Urvölkern – das treibt viele Menschen zum Reisen. So erging es auch mir, für mich waren Indigene Heilige, die etwas hatten, was mir fehlte – den echten Kontakt zur Natur und im Einklang mit ihr zu leben.

So fand ich als studierte Betriebswirtin in der klassischen Arbeitswelt und der Gesellschaft keine Erfüllung. Auch die Sicherheit als Beamtin konnte über diese Sehnsucht nicht hinweg täuschen. Und die ehrenamtliche Tätigkeit in einem Nürnberger Regenwaldschutzverein schloss diese Wunde nicht. Ich wagte den Schritt in die Freiberuflichkeit und begab mich im März 2021 auf Reisen – auf die Suche nach indigener Weisheit und meiner eigenen Wahrheit.

So bin ich in Brasilien in der Nähe von Manaus zu einer indigenen Gemeinde im Amazonas-Dschungel gekommen. Doch schon bald zerplatzte eine Illusion: Fast alle Bewohnnerinnen und Bewohner hatten sich hier vom Tourismus abhängig gemacht und nur sehr wenige bauten noch selbst Nahrungsmittel an.

Flächen für Anbau von Obst und Gemüse gab es genug, aber das Wissen und die Motivation dazu fehlten offenbar. Es galt als ein Zeichen für finanziellen Reichtum, wenn man viel Müll produziert. Selbst anzubauen wird als minderwertig angesehen. Zudem gab es viel Streit unter den Familien.

So zog es mich von Brasilien nach Kolumbien, um in Kontakt mit den Kogis zu kommen. Sie gelten als das letzte Volk, das ihre indigene Kultur bewahren konnte. In spirituellen Kreisen werden sie als der Stamm bezeichnet, der von immenser Bedeutung für die „Heilung von Mutter Erde“ sei.

Bei den Dorfbewohnern nicht willkommen

Tatsächlich lernte ich den Repräsentanten der Kogi, Arregoces Conchacala, persönlich kennen. Die Begegnung war jedoch völlig anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Auf Einladung von Arregoces Conchacala wurde ich im Dorf geduldet. Die Distanz der Bewohner zu mir änderte sich auch nicht, als ich eine große Ration an Nahrungsmitteln als Geschenk mitgebracht hatte.

Oft gibt es verklärte Vorstellungen vom indigenen Leben, Foto: Kloss

Langsam verstand ich, dass viele von uns im Westen eine verklärte Vorstellung von indigenen Völkern haben. Es ist eine Flucht vor der eigenen Verantwortung und der Notwendigkeit, den persönlichen Lebensstil zu überdenken. Wir denken: „Da wir im Westen ja keine indigene Weisheit besitzen, können wir die Welt ja auch nicht retten. Das sollen andere tun.“

Doch meine Neugier war geweckt. Die darauffolgende Zeit verbrachte ich fast acht Monate in Ecuador und über 12 Monate in Kolumbien. Es konnten sich Freundschaften entwickeln mit Indigenen des Stammes der Kichwa aus dem Dschungel Ecuadors und der Wiwa in der Sierra Nevada de Santa Marta, Kolumbien, dem Nachbarstamm der Kogi.

Was mich faszniniert: wie ehrwürdig und tief sie mit der Natur und mit den Elementen verbunden sind. Und das auf eine vollkommen selbstverständliche Art und Weise. Sie hören der Natur im wahrsten Sinne des Wortes zu und handeln danach. Sie entnehmen der Natur nicht mehr als notwendig und haben einen großen Respekt vor allem, was die Erde hervorbringt, sei es ein noch so kleiner Stein. Alles ist in ihren Augen beseelt und hat einen Wert.

Jüngere sagen sich los von ihrer Kultur

Doch manche Indigene verlieren ihre Wurzeln und den Bezug zu ihrer Kultur. Auch Alkohol und andere Drogen sind ein Problem. Viele der Jüngeren insbesondere bei den Kichwa sagen sich los von alten Gebräuchen.

So gibt es zum Beispiel ein Ritual, bei dem man im Morgengrauen so viel Guayusa-Tee trinkt, bis man sich übergeben muss. Dies soll der körperlichen und spirituellen Reinigung dienen und soll vor Schlangenbissen und Insektenstichen schützen.

Insbesondere die Jüngeren möchten lieber studieren und in der Stadt leben. Sie verlernen ihre Sprache, ihre Gesänge und Rituale. Ein Cauca’ in Kolumbien berichtete mir, dass er von seinem Volk nicht anerkannt ist, weil er die Sprache nicht spricht und als Anwalt in der Stadt Cali arbeitet.

In seinem Herzen würde er sich aber als Teil dieses Volkes fühlen, auch wenn er nicht in der Dorfgemeinschaft lebt und die Sprache nicht spricht. Er ist als „weißer Indigener“ von ihnen ausgestoßen und so lebt er in der Stadt, wo er sich nicht wirklich mit den Stadtmenschen identifizieren kann.

Was können wir voneinander lernen?

Je länger ich reise und beobachte, wird mir klar, dass sich die Kulturen wandeln. Etwas überzeichnet dargestellt, sehnen sich viele im Westen nach mehr Verbundenheit mit der Natur wie bei den indigenen Völkern. Diese wiederum finden einen vermeintlich erfüllenden westlichen Lebensstandard erstrebenswert.

So berichtet die Frauenorganisation „Amupakin“ in der Nähe von Tena/Ecuador, dass Interesse am Lernen und Erhalten der uralten Tradition fast nur von Ausländern besteht. Amupakin begleitet insbesondere schwangere Frauen mit traditioneller Medizin und Gebräuchen der Kichwa.

Diesen Wandel der Kulturen können wir nicht aufhalten. Vielmehr sollten wir Fragen: Was können wir voneinander lernen? Können wir vielleicht eine völlig neue Kultur kreieren, die das Beste beider Welten vereint?

So sagt auch mein Freund des Stammes der Wiwa der Sierra Nevada de Santa Marta in Kolumbien, dass alle Menschen und Kulturen auf der Welt wichtig und wertvoll seien. Gleichzeitig trügen wir alle die Verantwortung, etwas in der Welt zu verändern.

Die Wiwa versammeln sich, um der Natur zuzuhören, Foto: Kloss

Es geht nicht mehr darum, mal ein paar Tage bei Indigenen zu verbringen und danach das alte Leben unverändert fortzusetzen“, erklärt mir Gabriel. Die Menschen aus der westlichen Welt sollten etwas von dem integrieren, was sie von den indigenen Kulturen gelernt haben, etwa eine tiefere Naturverbundenheit.

Dafür könnten Rituale hilfreich sein, die in den Urwäldern praktiziert werden und durch sie sich als eins mit der Natur begreifen. Das ist für Menschen, die gelernt haben, sich die Erde und ihren Reichtum zunutze zu machen, eine ganz andere Haltung.

So gibt es spezielle Gesänge und Tänze, eines der wichtigsten Werkzeuge. Die Kichwa glauben, dass sie mit ihren Gesängen, den sogenannten Taki, beim Pflanzen in ihren Gärten bessere Ernte erzielen.

Die Wiwa waschen sich am liebsten in einem Fluss und würdigen dabei Mutter Erde. Sie sehen jeden Menschen als Ausdruck der Erde. Die Adern des Blutes seien die Flüsse und die Haut sei wie die Oberfläche einer Gebirgskette. Das Waschen des eigenen Körpers sei ein heiliges Ritual, mit dem nicht einfach nur der eigene Körper gereinigt wird. Sie ehren damit die Natur und alles Leben auf der Erde.

Umgekehrt können Indigene von moderner Technologie profitieren, die ihr Leben vereinfacht und dem Ganzen dienlich ist. Auch können sie lernen, ihre Gemeinschaften so zu organisieren, dass auch jüngere Menschen gern dort bleiben.

Es ist wichtig, dass beide ihre Identität bewahren und ihre Wurzeln achten. Vielleicht ist die Begegnung der Kulturen in Respekt und Offenheit auch eine Chance, auf Augenhöhe voneinander zu lernen. Anstelle Altem nachzutrauern, kann das Neue als eine große Chance angenommen werden, um gemeinsam Verantwortung für die Erde und ihre Bewohner zu tragen.

Sonja Kloss (2. v. li.) mit Freunden

Sonja Kloss ist Betriebswirtin für ganzheitliches Projektmanagement, Begleitung für Persönlichkeitsentfaltung, Atem-, Mediations- und Yogalehrerin und Verbinderin von indigener und westlicher Kultur.

Sie ist begleitet Menschen und Projekte in Südamerika und online auf der ganzen Welt und organisiert Events zum Austausch indigener und moderner Weisheit. Sie ist Vorstand des Naturschutzvereins Lebensraum Regenwald e.V., der sich für Erhalt und Schutz der Natur und indigener Kulturen einsetzt.

Weitere Informationen: www.sonjakloss.de und www.lebensraum-regenwald.de

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