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Schimpansen können sich altruistisch verhalten. |
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Standpunkt: Über die Evolution des Ethischen

Liegt es uns in den Genen, Gutes zu tun? Der Autor Wolf Schneider entdeckt das Tierische im Menschen und zeigt, dass altruistisches Verhalten selbst bei Tieren genetisch begünstigt ist. Sind wir doch nicht die Krone der Schöpfung?

Was ist gut? Und warum tun wir manchmal Gutes und dann wieder Böses? Und wenn es uns gelungen sein sollte zu definieren, was für uns „das Gute“ ist, und herausgefunden haben, was uns dabei motiviert, es zu tun: Wie können wir andere Menschen beeinflussen, eher Gutes zu tun als Böses?
Obwohl heute keiner mehr Moral predigen will, steht Egoismus nicht hoch im Kurs. Altruismus gilt nach wie vor als die bessere Variante. Wegen des geringen Erfolgs von Jahrtausenden der Ermahnungen an das menschliche Gewissen trauen wir uns heute aber fast nur dann, diese Unterscheidung zu treffen, wenn wir die Massenmeinung hinter uns wissen. Was große Gefahren in sich birgt, denn Weisheit ist bei den Massen nur selten populär.

Altruismus bei Tieren

Zu der uralten Frage nach dem Guten gewinnen wir einige Einsichten, wenn wir uns zunächst den Biologen zuwenden. Für sie sind wir Menschen soziale Tiere, die sich von anderen sozialen Tieren nicht so fundamental unterscheiden, wie wir als „Krone der Schöpfung“ in unserer Eitelkeit das gerne glauben wollen.
Zum einen gibt es Altruismus nicht nur bei gottgläubigen Menschen, die sich dafür eine Belohnung „in einer anderen Welt“ erwarten, wie das vor wenigen Generationen noch die meisten Christen glaubten. Altruismus gibt es kein bisschen seltener auch bei Atheisten. Und das Erwarten einer Belohnung „im Himmel“ ist ja auch nur eine andere Art des Egoismus, wenn auch eine, die einen gewissen, über das eigene irdische Leben hinausgehenden Weitblick enthält. Neu hingegen in der heutigen Diskussion um das Gute ist das Wissen, dass auch Tiere altruistisch sein können, und zwar vor allem sozial lebende Tiere und Tiere mit Brutpflege.

Die Wurzeln des Guten in der Brutpflege

Ein Team um die Anthropologin Judith Burkart von der Universität Zürich hat 15 verschiedene Primatenarten darauf hin untersucht, ob einzelne Individuen bereit waren, andere Gruppenmitglieder mit Leckerbissen zu versorgen, auch wenn sie selbst dabei leer ausgingen.
Im Vergleich dieser Primaten mit anderen Affenarten und mit vier bis sieben Jahre alten Kindern kamen Forscher zu dem Ergebnis, dass sich altruistisches Verhalten vor allem bei Lebewesen mit einer ausgeprägten Brutpflege zeigt. Hilfsbereitschaft gegenüber anderen Artgenossen gibt es vor allem dort, wo die Kinder nicht nur von den eigenen Eltern aufgezogen werden, sondern auch von anderen Mitgliedern aus der mit ihnen zusammenlebenden Gruppe.
Die evolutionsbiologische Erklärung für dieses Verhalten ist, dass die Gene, die ein Aufopfern des Elterntiers für die Brut begünstigen, sich besser durchsetzen. Es gibt dort also einen Selektionsdruck in Richtung auf altruistisches Verhalten.
Auch die weithin geschätzte Selbsterkenntnis, die ja der erste Schritt zur Befreiung vom Egoismus ist, gibt es schon bei Tieren. Schimpansen und Elefanten können sich im Spiegel erkennen: Ein ihnen auf der Stirn angebrachtes Zeichen versuchten sie nach dem Blick in den vor sie hin gestellten Spiegel zu entfernen – bei sich selbst, nicht etwa im Spiegelbild!

Gefühl für Gerechtigkeit auch bei Affen

Eine weitere jüngste Erkenntnis der Biologen ist, dass sogar das Gefühl für Fairness kein ausschließlich menschliches ist. Bei Kapuzineraffen fanden die Verhaltensforscher de Waal und Brosnan, dass sie bei ungerechter Behandlung (wenn ein anderer Affe eine bessere Belohnung erhielt als sie selbst), randalierten. Dort war aber nur der Affe beteiligt, der die Ungerechtigkeit selbst empfunden hatte, und und wehrte sich gegen die Benachteiligung. Schimpansen, die uns Menschen genetisch näher stehen als jede andere Tierart, verzichteten zugunsten einer gerechteren Belohnung sogar auf den eigenen Vorteil, was man nur als echten Altruismus bezeichnen kann.
Die Biologin Sarah Brosnan von der Emory University in Atlanta sagt zu diesem Verhalten der Schimpansen: „Ein Angebot auszuschlagen, das einen selbst bevorteilt, erfordert nicht nur Weitsicht, sondern auch Selbstdisziplin und geistige Kontrolle.“

Wir sind Tiere

Ich meine, wir können die Tatsache, dass wir als Menschen noch immer Tiere sind, nicht völlig von uns weisen können und dass das Tierische im Menschen nichts Schreckliches ist, das wir meiden, fürchten oder verdrängen müssen. Wir können dumme oder intelligente Tiere sein, gute oder schlechte Tiere, aber wir können nicht vermeiden, Tiere zu sein.
„Die Größe und den moralischer Fortschritt einer Nation kann man daran messen, wie sie die Tiere behandelt.“
Gandhi
Die Beispiele, wo menschliche Kulturen versucht haben, das Tierische im Menschen zu leugnen oder abzustreifen, waren nicht erfreulich. Das Tierische wird dann in Menschen als etwas Unmenschliches, Dämonisches bekämpft, auf Mitmenschen projiziert und dort notfalls per Exorzismus auszutreiben versucht. Es werden Bedürfnisse verleugnet, die bei Missachtung zum Tod von Individuen und ganzen Kulturen führen können.
Die besten Verleugner werden eher Fanatiker denn Heilige. Dass einzelne Individuen eine sehr weitgehende Befreiung von sogenannten „tierischen“ Bedürfnissen erlangt haben (die ja auch menschliche Bedürfnisse sind), streite ich nicht ab. Aber diese herausragenden Einzelnen haben das nicht durch Verleugnung erlangt und sind auch nicht durch Moralpredigten dazu bekehrt worden.

Vom Wurm zum Göttlichen

Aber wir können den Weg vom Wurm über die Echse und das aus verletztem Gerechtigkeitsgefühl randalierende Kapuzineräffchen bis zum echt altruistischen Schimpansen noch weitergehen: Wir können auf intelligente Weise tierisch sein. Wir können auf intelligente Weise eigennützige soziale Tiere sein: Tiere mit Gerechtigkeitsgefühl und Weitblick, die nicht nur für ihre eigenen Kinder, sondern auch für andere Menschen und deren Kinder und die Kinder künftiger Generationen Gutes tun.
Das zu tun liegt nicht nur schon in unseren Genen. Es befriedigt uns auch emotional und geistig. Es macht uns glücklich. Man könnte ein solches Verhalten sogar religiös nennen, im Sinne von religio, einer Rückbindung an das Ganze, das manche Menschen als etwas Persönliches empfinden, etwas Personales, als Gott.
Und wenn wir ein solches intelligentes, eigennütziges Verhalten auf eine kluge, gut verständliche Weise kommunizieren, wird es auch sozial belohnt. Das wäre dann eine Zivilisation, die nicht auf der Unterdrückung des Wilden und Tierischen basiert und sich damit brüsten muss, das Tierische hinter sich gelassen zu haben.
Auf die Frage eines Journalisten, was er von der (westlichen) Zivilisation halte, lautete Gandhis viel zitierte Antwort: „Das wäre ein gute Idee!“. An einer anderen Stelle sagte Gandhi: „Die Größe und den moralischer Fortschritt einer Nation kann man daran messen, wie sie die Tiere behandelt.“
Eine Zivilisation, die das Tierische im Menschen nicht mehr verdammt – und die Tiere dementsprechend nicht mehr nur als Ressource der Ernährungsindustrie sieht, die industriell optimiert und ausgebeutet werden muss – wäre in der Tat der Beginn einer wirklichen Zivilisation.
Wolf Schneider

Wolf Schneider, Jg. 1952, Autor, Redakteur, Kursleiter. Studium der Naturwissenschaften und Philosophie (1971-75) in München. 1975-77 Asienaufenthalt. Seit 1985 Hrsg. der Zeitschrift connection. Seit 2008 Theaterspiel & Kabarett.
Kontakt: schneider@connection.de, www.connection.de

Quellen: www.wissenschaft.de; Magazine: Spektrum der Wissenschaften; nature

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