Geseko von Lüpke über eine Ethik der Verbundenheit
Ubuntu ist eine Philosophie, aber auch ein Lebensgefühl von Verbundenheit und Gemeinschaft. Sie geht zurück auf die KhoiSan-Buschleute in Afrika und reicht damit bis zu den Anfängen der Menschheit zurück. Sie setzt dem Mythos der Individualität die Idee der Freiheit in Verbundenheit entgegen.
Der Kapstädter Vorort-Zug Richtung Downtown ist in allerfrüh bis auf den letzten Platz besetzt. Harte Holzbänke voller Menschen mit müden Gesichtern, im Mittelgang stehen Arbeiter mit ihren Fahrrädern. Hinter den schmutzigen Zugfenstern geht orangerot die Sonne auf. Der Blick fällt auf schäbige Behausungen entlang der Schienen, Wellblechhütten, staubige Straßen, graue Hauswände mit Graffiti.
Plötzlich beginnt jemand mit dem Klappdeckel des Müllbehälters einen Rhythmus vorzugeben, ein anderer Reisender nimmt den Rhythmus mit seiner Fahrradklingel auf. Menschen, die sich nicht kennen, beginnen miteinander zu singen, wiegen sich im Rhythmus, fühlen gemeinsam, werden wach, beflügeln sich gegenseitig, diesen Tag zu ihrem zu machen. Melancholisch, aber doch auch beseelt von einer größeren Gemeinschaft, die plötzlich spürbar wird.
Man mag so eine berührende Szene einfach nur als ‚afrikanisches Lebensgefühl‘ abtun, doch es ist mehr. Es ist der Geist des ‚Wir‘, eine tiefe Verbundenheit, in der viele Individuen wie eine Großfamilie zum Kollektiv verschmelzen.
Es ist ein Lebensgefühl, sagt der südafrikanische Philosophieprofessor Lesbila Teffo von der Hauptstadt-Universität in Pretoria. Eine Philosophie, die nicht im Elfenbeinturm der klugen Denker entstanden ist, sondern an den Graswurzeln einer multikulturellen Gesellschaft. Man nennt sie Ubuntu.
Wer Ubuntu hat, lebt verbunden und hat sich selbst verwirklicht
Ubuntu – das ist eine afrikanische Philosophie der Verbundenheit und jener gegenseitigen Abhängigkeit, die im Zusammenleben entsteht, indem man teilt, zusammen weint und lacht. Ubuntu ist ein wesentlicher Teil afrikanischer Identität mit Werten wie Mitgefühl, Selbstlosigkeit, Nächstenliebe, Solidarität.
Ubuntu lässt sich am ehesten als ‚Menschlichkeit‘ übersetzen und ist als Ideal des rechten Lebens in den traditionellen Dörfern über das ganze südliche Afrika verbreitet.
Es ist ein Lebensgefühl. Wer Ubuntu hat, lebt verbunden und für andere und hat sich gleichzeitig selbst verwirklicht. Der südafrikanische Präsident Nelson Mandela galt als Beispiel für gelungenes Ubuntu, aber auch Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Mutter Theresa. Es ist eine Philosophie des Wir.
Diese philosophische Weisheit entstand hier aus der Lebenspraxis immer wieder neu. Die Dorfältesten gaben die damit verbundenen Werte in Geschichten weiter, Mütter vermittelten sie in der Erziehung, Lieder und Tänze verwurzelten sie in den sozialen Gemeinschaften. Die weißen Herrscher wussten von nichts.
“Ich bin, weil du bist”
Ubuntu ist schwer in Worte zu fassen und trotzdem weiß in Südafrika jeder, den man fragt, worum es sich dabei handelt. Es ist der Klebstoff, der das soziale Gewebe zusammenhält. Die Qualität der Menschlichkeit, die in kleinen dörflichen Gemeinschaften lebendig ist, von denen die südafrikanische Schriftstellerin und Philosophin Barbara Nussbaum erzählt:
„Da gab es in einem Dorf einen sehr unartigen frechen 16jährigen. Und die Ältesten kamen zusammen und überlegten sich, wie sie mit dem Übeltäter umgehen sollten. Die Strafe, für die sich entschieden, bestand darin, dass der Jugendliche ein ganzes Wochenende in der Mitte eines Kreises sitzen musste, während die Dorfbevölkerung um ihn herum herumging und immer wieder sagte: „Wir lieben Dich wirklich!“ Das war ihre Art, ihn zu bestrafen.“
Während in Europa seit der Aufklärung ein kühler Rationalismus Kultur und Wissenschaft dominierte, ging es im Afrika südlich der Sahara eher um eine emotionale Philosophie, erklärt Johan Broodryk, der sich als weißer Autor und Philosoph nach dem Ende der rassistischen Herrschaft mit der Tradition des Ubuntu beschäftigt.
„Es ist eine kooperative, großzügige, spontane, freundliche, sorgende und teilende Grundhaltung. Man teilt eigentlich alles, selbst wenn man kaum was besitzt. Es ist ein kollektiver und nicht individualistischer Ansatz. Für Afrikaner ist das Leben Freude. Und wir teilen diese Lebensfreude. Wenn wir in diesem Geist zusammenkommen, wird getanzt und gesungen. Die Kunst des Menschseins spiegelt sich in dem Zulu-Sprichwort: Ich bin (…), weil Du bist.“
Europas Denken beruht auf Individualität
Ubuntu ist die Kraft, man selbst zu sein und andere darin zu bestärken, sie selbst zu sein. Diese Kraft kommt vom Mitmenschen. Ubuntu ist das Geschenk, das andere mir machen, wenn sie mich so lieben wie sich selbst. Es ist das Geschenk, das zum Gegengeschenk wird. Es produziert Gegenseitigkeit und Gemeinschaft.
Die Apartheid, die Schwarz und Weiß trennte, baute auf die Überzeugung, dass Freiheit nur in Trennung funktioniert. Und dass der einzige Weg, eine eigene Kultur zu erhalten, darin besteht, sich von anderen Kulturen abzugrenzen. Ubuntu ist genau das Gegenteil davon.
Europas Denken baut auf den Mythos der Individualität und Unabhängigkeit. Afrika preist dagegen die Gemeinschaft und gegenseitige Abhängigkeit. Dahinter steht die Überzeugung, dass die kollektive Identität der Gemeinschaft zwar im Vordergrund steht, aber das Individuum sich eigentlich erst im Schoß der Gemeinschaft ganz entfalten kann.
Ubuntu meint, dass der einzelne Mensch nur durch seine Teilhabe am Ganzen – was mehr ist als die Summe seiner Teile – , über sich hinauswachsen kann. Aus Descartes isolierendem ‚Ich denke, also bin ich‘, wird dann eher ‚Ich nehme teil, also bin ich‘.
Widerstand gegen die Herrschaft der Ökonomie
Der Philosoph Dirk Louw von der Universität Stellenbosh erklärt dieses Weltbild so: “Im Ubuntu sind das Individuum und die Gruppe kein Gegensatz. Die Gruppe selbst ist das Fundament, auf dem das Individuum sich entfalten kann.“
In den zahllosen Dörfern im südlichen Afrika war Ubuntu dann auch eine politische Philosophie, in der ein Häuptling oder König nicht feudal herrschte, sondern als Primus inter pares bestenfalls zur Stimme des Volkes wurde.
In Zeiten von Kolonialismus und Apartheid, wo sich die Kultur der schwarzen Bevölkerungsmehrheit gar nicht wirklich entfalten durfte, war Ubuntu die geheime Philosophie des Widerstands. Im demokratischen Südafrika der Gegenwart wandelt sich seine Bedeutung erneut: Da ist es so etwas wie der dritte Weg zwischen den großen Ideologien der Welt, sagt der Kapstädter Philosoph Augustine Shutte. Im zunehmend von der Globalisierung geprägten wirtschaftlichen Schwellenland Südafrika wird Ubuntu heute zur Philosophie des Widerstands gegen die Herrschaft der Ökonomie und den allgegenwärtigen Wachstumsmythos.
Die Schattenseite: Wenn Ubuntu trivialisiert wird
Doch der Alltag in Südafrika misst sich nur schwer an den hohen Idealen von Ubuntu. Fünf Millionen leben in Elendsquartieren, Straßenkinder bevölkern die Metropolen, steigende Preise treiben die Menschen auf die Straßen, Polizei und Staat knüppeln das Aufbegehren nicht selten nieder. Ubuntu?
Das Wort findet sich auch als Leerformel in Politikerreden, wird zur Marke und zum Werbeträger, wird als Name für Konsumprodukte, Computerprogramme und Versicherungsunternehmen missbraucht und trivialisiert.
Südafrikas kritische Jugend wendet sich vom verbindenden Mythos ab und glaubt kaum daran, dass sich das Ideal eines gerechten und gemeinschaftlichen Lebens mit der globalisierten Wachstumswelt verbinden lässt. Der Verlust von Ubuntu wird überall beklagt.
Die Seele mag sich danach sehnen, der Alltag ist geprägt von Geiz und Konkurrenz. Mit diesem inneren Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit ringt die ganze Nation.
Ubuntu ist wie ein Windhauch
Im weltweiten Ringen um eine neue globale Kultur, die Gerechtigkeit, Zukunft und Heimat für alle bietet, ist die Wiederentdeckung der Philosophie des Ubuntu aber trotzdem eine wertvoller Zutat aus dem Süden des afrikanischen Kontinents. Dass diese erst nach Ende der Apartheid in die Öffentlichkeit getretene Weltanschauung noch nicht verwirklicht werden konnte, spricht nicht gegen ihren Wert und ihre Kraft.
Der ‚Geist des Ubuntu‘ ist überall in Südafrika spürbar. Und es gibt zahllose Wege und Formen, wie er umgesetzt wird. Er wird dringend gebraucht, wenn die sozialen Gegensätze den angespannten Frieden im Land nicht gefährden sollen.
Und doch ist das zarte Gewächs des Ubuntu keine simple Gebrauchsanweisung für die komplexe Welt. Für die einfache Gastwirtin Elaine im südafrikanischen Küstenort Hermanus ist Ubuntu wie ein Geräusch der Zukunft, das jeder für sich erhaschen und umsetzen muss:
“Es ist wertvoll, es ist wie ein Windhauch. In dem Moment, in dem du versuchst, es festzuhalten oder es zu kontrollieren oder zur Ware machst, verschwindet es. Und so soll es wohl sein. Denn Ubuntu kann weder verkauft noch kontrolliert werden. Denn es ist die Substanz des Herzens.“
Dr. Geseko von Lüpke ist freier Journalist und Autor von Publikationen über Naturwissenschaft, nachhaltige Zukunftsgestaltung und ökologische Ethik.