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Ukraine Krieg: Wie umgehen mit starken Emotionen?

Kutsenko Volodymyr/ Shutterstock
Urpin, Ukraine, März 2022 |
Kutsenko Volodymyr/ Shutterstock

Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zu Russlands Krieg gegen die Ukraine auf und wie wir reagieren sollten: “Seit Februar 2022 verfolge ich die Nachrichten und bin mit starken Emotionen konfrontiert. Wie kann ich eine ethische Haltung zum Krieg entwickeln?”

Frage: Seit einem Jahr verfolge ich die Nachrichten zu Russlands Krieg gegen die Ukraine. Über die Medien, auch soziale Medien, erlebe ich den Krieg irgendwie mit. Doch was mache ich mit diesen Bildern des Grauens und der Gewalt? Manchmal ertappe ich mich und spüre eine gewisse Sensationslust. Dann wieder bin ich wütend angesichts des sinnlosen Leidens und will, ohne darüber nachzudenken, dass noch mehr Waffen geliefert werden. Mir fällt es schwer, eine ethische Haltung zu entwickeln. Wie gehen wir damit um, wenn wir, die wir keine Verantwortung haben, mit diesem Krieg und den Informationen, Bildern und Videos konfrontiert sind?

Jay Garfield: Der Krieg wirft viele ethisch schwierige Fragen auf, etwa die Dilemmata, mit denen die Soldaten konfrontiert sind, oder die Verantwortung derjenigen, die sie befehligen, die die Feindseligkeiten auslösen, oder die gezwungen sind, sich zu verteidigen.

Ihre Frage greift noch einen anderen wichtigen Aspekt heraus: Wie sollten diejenigen von uns, die nicht in die Kämpfe involviert, aber dennoch vom Krieg betroffen sind, darauf reagieren?

Wie wir reagieren, verrät viel über unseren Charakter, und wenn wir über unsere Reaktion nachdenken, können wir unsere eigene ethische Haltung überprüfen, um ein besserer moralischer Akteur zu werden.

Wie weit ist unser moralisches Empfinden ausgeprägt?

Ethische Kultivierung schließt nicht nur die Handlungen ein, sondern auch unsere Sichtweise, etwa wie wir die Welt, andere Wesen und uns selbst wahrnehmen.

Denn das Handeln wird maßgeblich von der Wahrnehmung bestimmt und antwortet darauf. Wenn wir wahrnehmen, bewerten wir die Ereignisse und Wesen um uns herum. Wahrnehmung ist auch eine Fähigkeit, die es zu kultivieren gilt. Das weiß jeder, der Kunstgeschichte, Biologie, Sport oder Medizin studiert hat.

Es ist eine Sache, ein schönes Bild, einen Baum, einige Menschen auf einem Feld oder einen Fleck auf einem Röntgenbild zu sehen, aber etwas ganz anderes, einen späten Picasso oder einen Tumor zu sehen. Der Unterschied liegt nicht in dem Objekt, das wir vor Augen haben, sondern im Grad des Fachwissens und der Sensibilität, mit der der Wahrnehmende auf die Situation schaut.

Ein Experte zu werden bedeutet auch, besser sehen zu lernen. Genauso erfordert moralische Kompetenz ein Training. Sie spiegelt sich in unserer Fähigkeit zu differenzieren, aber auch darin, dass wir unser Handeln in angemessener Weise von diesen Wahrnehmungen leiten lassen können.

Wenn wir also darüber nachdenken, wie wir den Krieg erleben, selbst aus der Ferne, werden wir damit konfrontiert, wie es um das Maß der moralischen Kultivierung bestellt ist.

Ich lade Sie daher ein, sich zu fragen: Wenn Sie von der Bombardierung ziviler Infrastrukturen, von der Hinrichtung von Kriegsgefangenen hören, wie reagieren Sie? Mit Wut, Enttäuschung, Trauer oder Missbilligung?

Wenn Sie vom heldenhaften Widerstand der Bevölkerung hören, reagieren Sie dann mit Bewunderung oder mit der Hoffnung auf Rache? Dies sind wichtige Fragen, an denen sich unsere eigene moralische Entwicklung ablesen lässt.

Der Punkt ist folgender: Wenn wir differenziert wahrnehmen können und ein klares Verständnis der Realität haben, können wir effektiv moralisch handeln.

Wut beruht auf unrealistischen Sichtweisen

Es ist ganz natürlich, auf die Situationen im Zusammenhang mit dem Krieg mit starken Affekten wie Wut oder sogar Hass zu reagieren und Rache üben zu wollen. Aber die Tatsache, dass dies natürlich ist, bedeutet nicht, dass es vernünftig oder nützlich ist.

Daher wäre es hilfreich, ruhiger und besonnen zu reagieren. Wenn wir dies tun, können wir Antworten auf den Krieg finden, die für uns gesünder sind; diese würden uns zudem ermöglichen, erfolgreicher einzugreifen.

Wenn wir impulshaft reagieren, schreiben wir den Akteuren eine Art von Autonomie, Handlungsfähigkeit und Verantwortlichkeit zu. Dabei blenden wir aus, welche Ursachen und strukturellen Bedingungen zu ihrem Verhalten geführt haben.

Genauso wenig wie wir einem Gewehr oder einer Bombe die Schuld für das Unheil der Zerstörung geben, sollten wir anerkennen, dass Soldaten, ja sogar die Befehlshaber von vielen Umständen dazu veranlasst werden, das zu tun, was sie tun. Niemand ist von dem komplexen Gefüge von Ursachen und Bedingungen ausgenommen, das die Welt ausmacht. Das ist auch der Grund, warum Wut eine unrealistische, verengte Sichtweise auf das Geschehen ist.

Wenn wir so nachdenken, bedeutet es nicht, dass wir die Gräueltaten gutheißen oder gar moralisch neutral bleiben sollen. Weit gefehlt. Wir sollten die Gewalt missbilligen! Wir sollten daran arbeiten, ihr ein Ende zu setzen. Wir sollten diejenigen, die sie begehen, zur Rechenschaft ziehen.

Aber um dies zu tun, müssen wir mit einem unvoreingenommenen, klaren Verständnis dessen beginnen, was passiert ist, warum es passiert ist und warum es falsch ist. Wir müssen verurteilen, eingreifen oder Hilfe leisten, nicht weil wir uns in der Situation schlecht oder wütend fühlen, denn dann würden wir uns selbst und nicht die Opfer in den Mittelpunkt des moralischen Urteils rücken. Es geht um die Situation selbst.

Bessere moralische Akteure werden

Wut trübt das Urteilsvermögen. Fragen Sie sich: “Denke ich am klarsten, handle ich am effektivsten, wenn ich wütend bin?” Ich bin mir sicher, dass die Antwort auf diese Frage ein klares “Nein” ist. Wir handeln am besten, wenn wir ruhig sind. Die Opfer des Krieges brauchen uns als wirksame Verbündete, nicht als eine weitere Quelle des Chaos.

Eine Haltung der Freundschaft, der Fürsorge und Großzügigkeit ist heilsamer als Wut und Enttäuschung, auch weil sie uns in die Lage versetzt, geschickter zu handeln. Weiter ist es gut für unsere eigene psychische Gesundheit und unsere moralische Haltung , wenn wir geduldig und fürsorglich sind.

Ich weiß, dass das schwer ist: Wut ist eine natürliche Reaktion, und im ersten Moment kann es sich so anfühlen, als sei sie gerechtfertigt und die einzig legitime Reaktion auf die Schrecken des Krieges. Aber aus Aggression und Frustration heraus werden wir nicht in der Lage sein, den Opfern zu helfen, noch die Täter zu bestrafen oder den Krieg zu beenden helfen. Auch für unsere eigene geistige Gesundheit sind solche Emotionen nicht förderlich.

Geduld, Entschlossenheit, Klarheit in der Vision, Fürsorge und Freundschaft bringen uns viel weiter. Wenn wir diese Haltungen auch unter diesen schwierigen Bedingungen kultivieren können, werden wir zu besseren moralischen Akteuren. Dann können wir wirksamer handeln und Maßnahmen überlegen, um den Krieg zu beenden.

Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org

 

Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick
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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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