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Achtsamer Konsum

blurAZ/ Shutterstock
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Die 5. Achtsamkeitsübung: Konsum

Der Meditationsmeister Thich Nhat Hanh hat fünf Achtsamkeitsübungen entwickelt, nach entsprechend allgemein anerkannten ethischen Richtlinien. Yesche U. Regel stellt die fünfte Regel vor: unachtsamen Konsum aufgeben.
Im Bewusstsein des Leidens, das durch unachtsamen Konsum entsteht, bin ich entschlossen, auf körperliche und geistige Gesundheit für mich selbst, meine Familie und meine Gesellschaft zu achten, indem ich achtsames Essen, Trinken und Konsumieren praktiziere. Ich werde mich darin üben, tief zu schauen, um meinen Konsum und meinen Umgang mit den vier Arten von Nahrung – Essbarem, Sinneseindrücken, Willenskraft und Bewusstsein – zu erkennen.
Ich bin entschlossen, weder Alkohol noch Drogen oder andere Dinge zu benutzen, die Gifte enthalten, wie z.B. bestimmte Internetseiten, Glücksspiele, elektronische Spiele, Fernsehsendungen, Filme, Zeitschriften, Bücher oder Gespräche.
Ich werde mich darin üben, zum gegenwärtigen Augenblick zurückzukommen, um mit den erfrischenden, heilenden und nährenden Elementen in mir und um mich herum in Berührung zu sein. So lasse ich mich weder von Bedauern und Kummer in die Vergangenheit ziehen noch von Sorgen, Angst oder Begierden aus dem gegenwärtigen Augenblick bringen.
Ich bin entschlossen, nicht zu versuchen, Einsamkeit, Angst oder anderes Leiden zu überdecken, indem ich mich im Konsum verliere. Ich werde das „Intersein“ tief betrachten und auf eine Weise konsumieren, die Frieden, Freude und Wohlergehen sowohl in meinem Körper und Bewusstsein als auch im kollektiven Körper und Bewusstsein meiner Familie, meiner Gesellschaft und unserer Erde bewahrt.

Konsum und Raubbau

Die letzte der fünf Achtsamkeitsübungen wird in der buddhistischen Tradition zumeist als „Sich berauschender Substanzen enthalten“ bezeichnet. Dabei wird hauptsächlich an Alkohol und Drogen gedacht. Doch Thich Nhat Hanh fasst die Ethik hier viel weiter. Für ihn geht es um die Frage, was wir als Nahrung zu uns nehmen und was und wie wir konsumieren.
Jenseits von Alkohol und Drogen gibt es eine Menge an „berauschenden“ bzw. die geistige Klarheit einschränkenden und trübenden Substanzen und Einflüsse. Eine ungesunde Lebensführung bedeutet wiederum Leiden, sowohl für uns selbst als auch für alle und alles, womit der Konsum des Einzelnen zusammenhängt.
Unachtsamer Konsum schadet nicht nur dem Konsumenten, er macht alle in einer Familie und die ganze Gesellschaft krank. Konsum bezieht sich sowohl auf Essen und Trinken als auch auf die ganze Fülle der Konsumartikel, die wir kaufen, verbrauchen, benutzen, buchen, downloaden und wieder wegwerfen können.
Politiker mögen den immensen Verbrauch der Menschen unseres Zeitalters volkswirtschaftlich rechtfertigen und sogar auf dessen Wachstum drängen, aber er fordert Opfer in einem schier unglaublichen Ausmaß. Der Raubbau an der Natur, die Plünderung der Bodenschätze, die brutale Massentierhaltung und vieles mehr sind Beispiele für die Grausamkeit, mit der der Mensch sich die Erde, die Bodenschätze und alle anderen lebenden Arten glaubt Untertan machen zu können.
Und dabei krankt der Mensch selbst. Viele leiden an ernährungsbedingten Erkrankungen wie Übergewicht, zumindest an Übersäuerung oder Stoffwechselstörungen. Und wenn die Eltern ihre Kühlschränke mit x-beliebigen, oft billigen und ungesunden Nahrungsmitteln vom Discounter füllen, dann isst die ganze Familie das, was auf den Tisch kommt.
Achtsames Essen und Trinken hieße, Speisen auszuwählen, die im Einklang mit den wirklichen Bedürfnissen des eigenen Körpers stehen und zugleich dafür sorgen, dass man sich gesund fühlt und der Geist klar bleibt. Sie geschähe auch mit Rücksicht auf die Herkunft, den Anbau und die Art und Weise, wie diese Nahrungsmittel gehandelt wurden.
Doch Thich Nhat Hanh geht in seinen Formulierungen dieser Achtsamkeitsrichtlinie über Nahrung, die durch den Mund geht, hinaus. Er beschreibt vier Arten der Nahrung: Essbares, Sinneseindrücke, Willenskraft und Bewusstsein.

Droge Medienkonsum

Über die Sinne konsumieren wir heutzutage vor allem durch die Medien. Sie willkürlich, passiv und vielleicht sogar begehrlich zu konsumieren, kann ebenso zur Trübung der geistigen Klarheit beitragen wie andere substanzielle Drogen. Hier kommt es auf die eigene Achtsamkeit und die wache Intelligenz an, mit der wir uns etwas anschauen, lesen oder hören.
Vermutlich überfordern uns viele mediale Eindrücke und wir bemerken kaum, wie dies geschieht. Wahrscheinlich sind unsere Gedanken und Träume längst von der technisierten Welt, in der wir leben, derart eingenommen, dass wir kaum mehr zu einer natürlichen Wahrnehmung imstande sind.
Die Drogen des technischen Konsums wirken eher subtil und schleichend, so dass sie uns die Kraft zu den wirklich kreativen, künstlerischen, emotionalen und geistigen Leistungen und die Fähigkeit zu tiefer Mediation rauben können.
Den Unterschied merkt man erst, wenn man sich eine Weile ihrer Einflüsse entzieht, z.B. durch Meditationsklausuren in Abgeschiedenheit, durch Auszeiten von Internetnutzung und von Filmen und Fernsehprogrammen. Ich erlebte dies während einer Drei-Jahres-Klausur, in der die erste Zeitung, die unsere Retreat-Gruppe nach drei Jahren zu Gesicht bekam, den Fall der Berliner Mauer meldete.
Wir hatten die ganze Vorgeschichte nur durch vage Mitteilungen unseres Kochs mitbekommen. Diese weltbewegende Information stand dennoch plötzlich ganz groß im Raum, auch ohne dazu Filme und Talkshows zu sehen.
Heutzutage muss man sich regelrecht vornehmen, mit heilsamen Geisteseindrücken in Kontakt zu kommen, deshalb ist Ethik bei Thich Nhat Hanh im positiven Sinn eine Achtsamkeitspraxis. Es geht darum, zum einen Heilsames „in sich selbst“ zu finden, in der eigenen Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit, in inneren Qualitäten wie Ruhe, Freude und Gelassenheit. Darüber hinaus aber auch Heilendes „in der Umgebung“ zu entdeckenin der Atemluft, in Blumen und Bäume, Landschaften und auch im Lächeln eines Kindes, also in allem, was „erfrischend und nährend“ sein kann.
Vor vielen Jahren durfte ich Thich Nhat Hanh einmal in seiner Waldhütte in Plum Village besuchen. Schweigend saß ich eine ganze Weile alleine und in Stille vor diesem wunderbaren alten Mönch und Lehrer. Dann deutete er auf das große Fenster, durch das man über den Wald in die Landschaft schauen konnte. „Das ist meine große Fernsehscheibe“, sagte er, wobei klar war, dass es hier keinen anderen Fernseher gab.

Eine innere Diät machen

Auch die eigenen Emotionen können uns nähren oder vergiften; Freude z.B. ist Nahrung, Ärger und Geiz sind Gifte, Ehrgeiz ist ein großer Stressfaktor. Somit ist der geschickte Umgang mit Emotionen auch Teil dieser Diät. Dazu gehört die Entschlossenheit, sich nicht von eigenen Emotionen zerstören zu lassen.
Ängste in Bezug auf die Vergangenheit und vor der Zukunft gilt es ganz bewusst aufzugeben, was durch die Übung der Meditation geschehen kann. Dabei versucht man, geistesgegenwärtig zu bleiben und sich nicht von den Gedanken forttragen zu lassen.
Depressive Gedanken kreisen oft um das Vergangene und ziehen einen Rattenschwanz von überflüssigen mentalen Bewertungen und Hinzufügungen nach sich. Meistens sind es Fehlinterpretationen des zuvor Erlebten. Dasselbe gilt für zukunftsbezogene Gedanken, die zu Ängsten werden, zumeist vor Dingen, die so nicht eintreten werden. An anderer Stelle sagte Thich Nhat Hanh, dass man die Zukunft nicht zu fürchten bräuchte, da sie die Gegenwart sein wird, wenn sie da ist.

Konsumieren gegen den inneren Mangel?

Der Konsum der vielfältigen Dinge, die die moderne Welt heute zu bieten hat, kann Einsamkeit hervorrufen. Zugleich neigen Menschen dazu, ihre Einsamkeit und das könnte auch heißen die Unfähigkeit zu geschicktem emotionalen, rationalem und evtl. auch spirituellen Handeln, durch den Erwerb von Konsumgütern überdecken zu wollen. Ist das die Strategie unserer auf Wachstum getrimmten Konsumentengesellschaft? Konsum als Lösung, um dem inneren Mangel zu begegnen?
Der Ausweg kann nur sein zu begreifen, was für mich, die Gesellschaft und die Welt gesund und heilsam ist. Dabei geht es sowohl um Quantität als auch um Qualität. Wir brauchen zum einen Mäßigung und den bewussten Verzicht auf Überfluss und Ausbeutung. Zum anderen geht es darum, die eigene tiefere Erlebnisfähigkeit wiederzubeleben. Wenn wir uns auf eine tiefere Weise erleben und spüren, werden wir natürlicherweise von äußeren Dingen ablassen und merken, dass weniger oft mehr ist.
Auch hier passt die Metapher der Nahrung: Wenn man zu viel isst, dann verdirbt man sich den Magen und verpasst es auch, den Geschmack der Speisen intensiver wahrzunehmen. Also besser mehr schmecken und weniger verschlingen.
Thich Nhat Hanh hat das Wort „Intersein“ geschaffen, das wechselseitige Verbundensein aller Lebewesen und aller Elemente des Lebens. Wenn wir dies betrachten und verstehen, erkennen wir, wie alles miteinander zusammen und voneinander abhängt. Daraus können wir kluge und mitfühlende Schlüsse ziehen.
Oft denken wir bei gesunder Ernährung nur an die eigene Diät. Doch es geht auch um die Verantwortung für alles, was mit der Nahrungsaufnahmezu tun hat. Dadurch wird das Gebot, achtsam zu sein, noch größer. Es könnte so groß werden, dass wir uns überfordert fühlen.
Soll man wirklich bei jeder Tasse Kaffee, die man trinkt, an die verarmten und von den Kaffee-Konzernen schlecht bezahlten Plantagen-Arbeiter denken? Bei jeder Tafel Schokolade an die ungezählten Kinder, die mit Macheten durch die Kakaoplantagen rennen und sich beim Schneiden der Pflanzen oft schwer an Beinen und Füßen verletzen?
Nun, warum eigentlich nicht? Man trinkt ja schließlich den Kaffee und isst diese Schokolade. Am liebsten tun wir das, ohne nachzudenken und ohne Achtsamkeit in Bezug auf das, was sich hinter unserem Konsum verbirgt. Besinnen wir uns auf das, was Thich Nhat Hanh empfiehlt:
„Ich werde das „Intersein“ tief betrachten und auf eine Weise konsumieren, die Frieden, Freude und Wohlergehen sowohl in meinem Körper und Bewusstsein als auch im kollektiven Körper und Bewusstsein meiner Familie, meiner Gesellschaft und unserer Erde bewahrt.“
Am Ende sei erwähnt, dass der 88-jährige Thich Nhat Hanh sich seit einigen Wochen in einem sehr kritischen Gesundheitszustand befindet. Mit Dankbarkeit für sein Lebenswerk und dem Wunsch, dass seine Lehren der Welt noch lange erhalten bleiben, sei ihm diese Erläuterung der Achtsamkeitsübungen hier gewidmet.
Yesche Udo Regel

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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