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Verantwortung heißt Antworten geben

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Standpunkt: Übernimmt Aiwanger Verantwortung?

Verantwortung ist immer konkret. Sie bezieht sich auf Menschen, die von meinem Handeln betroffen sind. Ina Schmidt ordnet die Vorgänge um Hubert Aiwanger und das antisemitische Flugblatt ein und kommt zu dem Schluss: Ihm geht es allein um Machterhalt und nicht um ein verantwortungsvolles Handeln für die Demokratie und Erinnerungskultur.

Der Philosoph Karl Jaspers, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich für die Aufarbeitung der Greueltaten der Nationalsozialisten stark gemacht hat, unterstrich die Bedeutung der Verantwortung, die wir alle für das tragen, was wir sagen und tun. Aber eben auch getan haben, selbst wenn dies lange zurück liegt.

Den Begriff verstand er als Handlungsweisung, zu der wir in konkreten Situationen aufgerufen sind. Und das betrifft auch die Stellungnahme und ehrliche Aufarbeitung von Handlungen, die nicht mehr dem entsprechen, wie wir uns möglicherweise heute verhalten.

Verantwortung sei immer „konkret“, so Jaspers. Verantwortung übernehmen bedeutet, dass es ein Gegenüber gibt, einen oder viele Menschen, die von meinem Handeln betroffen sind oder waren und denen ich durch das, was ich getan oder unterlassen habe, eine Antwort schulde.

Das mag manchmal nicht ganz einfach sein, wenn ich mich als Teil einer Organisation oder im Rahmen einer gesellschaftlichen Rolle zu verantworten habe. Aber genau dann wird es besonders wichtig, die eigene Verantwortung ernst zu nehmen. Denn dann spreche ich nicht mehr nur für mich, das eigene Handeln geht über die eigenen Interessen hinaus.

Jeder einzelne trägt Verantwortung

Der Fall des stellvertretenden bayrischen Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger ist hier ein besonders brisantes Beispiel. Nach Berichten der Süddeutschen Zeitung vom 25. August 2023 hat Aiwanger als 16-Jähriger ein in verhöhnender und menschenverachtender Sprache verfasstes antisemitisches Flugblatt in seiner Schultasche gehabt. Wahrscheinlich hat er es auch in der Schule verteilt, nach eigenen Aussagen sei ihm das aber „nicht mehr erinnerlich“.

Aiwanger beteuert, dass nicht er das Flugblatt verfasst habe, sondern sein Bruder. Allerdings ist das nicht belegt. Frühere Mitschüler meldeten sich zu Wort, dass der heutige Politiker zu Schulzeiten auch in anderen Kontexten durch antisemitische Äußerungen und Verhaltensweisen aufgefallen sei, ein Verhalten, an das sich Aiwanger ebenfalls nicht mehr zu erinnern vermag.

Seinen eigenen Worten nach sei er nie ein „Menschenfeind“ gewesen, als erwachsener Mann ein Demokrat, ja ein „Menschenfreund“. Das allein sei es, was in seiner politischen Arbeit als stellvertretender Ministerpräsident Bayerns zählen solle. So weit so gut.

Kommen wir zurück zur Verantwortung. Denn, es bleiben Fragen offen. Verantwortliches Handeln bedeutet, auf diese Fragen zu antworten. Manche dieser Antworten hat Hubert Aiwanger Anfang September auf einen Katalog von 25 Fragen, die ihm von Ministerpräsident Söder vorgelegt worden ist, mehr oder weniger umfassend formuliert.

Allerdings sind die meisten Antworten spärlich. Häufig verweist Aiwanger darauf, wie lange das alles schon zurück läge; hier und da werden die Fragen noch einmal wiederholt.

Was Aiwanger vollständig versäumt, ist, das Handeln von früher in den Kontext von heute zu setzen. Welche Konsequenzen verursacht es, wenn ein Politiker mit solch menschenverachtenden Aussagen in Verbindung gebracht werden kann, wie muss er sich heute dazu verhalten?

Verantwortung für heutiges Handeln

Es geht nicht darum, die Taten eines 16-Jährigen einem heute 52Jährigen vorzuwerfen, sondern darum, wie der erwachsene Aiwanger sich von diesen Aussagen distanziert und klar Stellung bezieht. Jedes verantwortungsvolles Handeln braucht die wahrhaftige Auseinandersetzung mit der Gesinnung, an der die eigenen Handlungen ausgerichtet sind und den Folgen, die diese nach sich ziehen – manchmal auch erst viele Jahre später.

Hier hilft die Unterscheidung Max Webers, der in seiner Schrift „Politik als Beruf“ eine Gesinnungsethik von einer Verantwortungsethik unterschied. Sind es die eigenen Werte und Prinzipien, die über die Güte des eigenen Tuns entscheiden, oder gilt es, den Wert der eigenen Handlungen an ihren Folgen zu messen?

Gerade für diejenigen, die ihr Handeln in den Dienst einer politischen Gemeinschaft stellen, ist besonders wichtig, wo und wie sich diese beiden Dimensionen in den eigenen Entscheidungen begegnen. Und hier gibt es in Bayern offenbar ein Problem.

Dafür muss die politische Haltung des Jugendlichen Hubert Aiwanger nicht einmal thematisiert werden. Denn es geht um die Folgen, die das Flugblatt gegenwärtig verursacht und für die sich der Erwachsene Hubert Aiwanger als politische Person – auch mit einer heute anderen Gesinnung – zu verantworten hat.

Entschuldigung aus der Opferrolle

Nach Tagen des Lavierens und Abstreitens von Seiten Hubert Aiwangers klang eine leise Entschuldigung an: Niemand sollte verletzt werden, die Äußerungen täten ihm Leid. In der Vorbemerkung zur Beantwortung der ihm gestellten 25 Fragen räumt er ein, die Formulierungen in dem Flugblatt seien menschenverachtend.

Und doch richtet sich kein Wort an ein konkretes Gegenüber. Bei wem und wofür hat sich Aiwanger nun entschuldigt? Für etwas, das er nicht geschrieben hat? Und wen meint er mit denjenigen, die verletzt worden sind? Reicht es, bei einem solchen Text an die Gefühle einer nicht näher ausgeführten Öffentlichkeit zu appellieren? Eher nicht.

Und dennoch: Die Richtung würde stimmen Aber das alles hat einen schalen Beigeschmack, wenn Aiwanger sich im gleichen Atemzug zum Opfer stilisiert: Er solle medial und persönlich „fertig gemacht werden“.Er stellt sich als Opfer der Berichterstattung dar, die in unschönen Episoden der Vergangenheit wühle. Die Schule solle ein Schutzraum bleiben, in dem auch Dinge möglich bleiben müssen, die nicht Jahre später die politische Karriere zerstörten.

Aber ist ein Flugblatt, in dem sich über die Greueltaten der Nationalsozialisten in Auschwitz auf abscheuliche Weise lustig gemacht wird, wirklich das, was ein Schutzraum Schule uns möglich machen muss? Wohl kaum.

Denn auch, wenn es damals Konsequenzen gab und zur Strafe ein Referat zu halten war, das Aiwanger nach eigener Erinnerung wahrscheinlich auch gehalten hat, bleibt es wichtig, heute eine klare Haltung zu Fragen zu beziehen, die sich weiterhin stellen. Das, was der Aiwanger von heute hingegen tut, ist, die Vorwürfe zu thematisieren, statt der eigenen Taten, um so seine politische Macht zu sichern.

Kein Wort der ausdrücklichen Entschuldigung an jüdische Mitbürger*innen für die unsäglichen sprachlichen Bilder des Flugblatts. Kein Gesprächsangebot. Keine Abgrenzung, keine klaren Worte gegen Antisemitismus und rechtes Gedankengut.

Keine Aufklärung, warum diese Vorwürfe sich so hartnäckig halten und durch weitere Berichte aus Aiwangers Schulzeit gestärkt werden. Kein Wort zu seiner eigenen Entwicklung und wann er sich von rechtem Gedankengut abgewendet, zum „Menschenfreund“ geworden und sich und der Demokratie zugewendet hat.

Demokratie braucht Erinnerungskultur

Das ist besonders vor dem Hintergrund von Auftritten auf Kundgebungen in der letzten Zeit bedenklich. Im Juni 2023 fordert Aiwanger bei einer Demonstration in Erding: „Wir müssen uns die Demokratie zurückholen“, ein klarer Aufruf an Menschen, die mit der derzeitigen Regierung so unzufrieden zu sein scheinen, dass sie sich die politische Führung auf andere Weise zurückerobern müssen. Solche Töne sind derzeit nur am rechten Rand zu hören.

Die Erinnerung an die Greueltaten der Nationalsozialisten sind ein Teil unserer Demokratie und unserer gemeinsamen Verantwortung dafür, dass sich solche Taten nie wieder ereignen. Damit grenzen wir uns von Rechtsextremen ab, denen diese Erinnerungskultur ein Dorn im Auge ist.

Doch Aiwanger verweigert hier eine klare Haltung und stilisiert sich zum Opfer, weil viele Stimmen eine deutliche Distanzierung von den Inhalten des unsäglichen Flugblatts fordern. So liefert er selbst den Beweis, dass es ihm nicht um die Demokratie, Menschenfreundlichkeit oder den Schutzraum Schule geht, sondern um persönlichen Machterhalt. Und das hat nichts mit Verantwortung zu tun, wie Karl Jaspers und viele andere sie verstehen wollten und weiterhin wollen

Foto: privat

Dr. Ina Schmidt studierte Angewandte Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg, Forschung und Lehre am Institut für Philosophie sowie Promotion 2004. Gründung der denkraeume, einer Initiative zur Vermittlung philosophischer Praxis.

Autorin philosophischer Sachbücher für Erwachsene und Kinder, zuletzt erschienen „Die Kraft der Verantwortung. Über eine Haltung mit Zukunft“ in der Edition Körber (2021).

Ina Schmidt ist Mitglied der Internationalen Gesellschaft für philosophische Praxis, Teil des Ideenrates am Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt in Frankfurt. Außerdem arbeitet sie als Referentin für verschiedene Bildungseinrichtungen, u.a. in dem Projekt „Gedankenflieger“ am Hamburger Literaturhaus.

 

 

 

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