Über eine ambivalente Beziehung
In Indien wird die Welt als Einheit gesehen, in der das Wohl aller voneinander abhängt, viele Tiere werden verehrt. Gleichzeitig will man sich nicht in fremde Schicksale einmischen, und Tiere werden ausgebeutet. Rainer Hörig über seine Beobachtungen in Indien.
Mit bedächtigen Schritten nähern wir uns der alten Dame. Sie behält uns mit ihren großen, braunen Augen im Blick, lässt sich aber sonst nichts anmerken. Erst als mein Begleiter Satyapalan seine Hand auf ihre Schulter legt, wedelt sie zustimmend mit den Ohren.
Satyam redet beruhigend auf sie ein – warme Worte der Wertschätzung – und führt dann meine Hand langsam zu ihrem Leib. Ich bin überrascht, wie rau sich ihre graue, spärlich behaarte Haut anfühlt und beginne sie behutsam zu streicheln. Nie bin ich einem Elefant so nahe gekommen! Ein wenig nervös bin ich schon, angesichts dieser Größe und Kraft. Aber dann fällt mein Blick auf die schwere Eisenkette, die ihr linkes Fußgelenk umspannt und an einen massiven Baumstumpf fesselt. “Keine Bange, solange ich bei dir bin, wird Lakshmi dir nichts tun,” beruhigt mich der Betreuer.
Satyapalan arbeitet als “Mahaut”, als Elefantenpfleger und -führer in der südindischen Stadt Guruvayur. Hier steht einer der bedeutendsten Tempel des Küstenstaates Kerala, dem Gott Krishna geweiht. Außerhalb der Stadt unterhält der Tempel ein Camp für gezähmte Elefanten. “Wir halten hier rund 60 Dickhäuter. Sie gehören dem Tempel,” erklärt Satyapalan. “Sie wurden von wohlhabenden Gläubigen sozusagen dem Gott Krishna gestiftet. Wir vermieten die Tiere für Feste und Prozessionen. Normalerweise beträgt die Miete pro Tag 100.000 Rupien, aber manchmal zahlen die Leute auch das Doppelte.”
Besucher können beim Rundgang durch das Camp den Pflegern bei der Arbeit zuschauen und die Elefanten aus wenigen Metern Entfernung beobachten. Die Tiere schlenkern gelangweilt ihre Rüssel und wedeln mit ihren großen Ohren. Für Mahouts wie Satyapalan ist der Job eine Berufung: “Ich arbeite jetzt seit 22 Jahren mit demselben Tier, es hört auf den Namen Lakshmi,” verrät Satyapalan schmunzelnd. “Jeden Morgen gehe ich als Erstes zu ihr und begrüße sie. Sie antwortet mit einem leisen Grunzen. Dann füttere ich Lakshmi und führe sie zum Baden. Bevor ich sie wieder ankette, muss ich den Stellplatz sauber machen.”
Elefanten als Tempeldiener
Schätzungsweise 3000 Elefanten leben in Indien in menschlicher Gefangenschaft, im Privatbesitz also. Überall im Lande sieht man gelegentlich Elefanten, die am Straßenrand von gläubigen Verehrern Geld erbetteln. In Rajasthan genießen Touristen einen Ritt auf ihren breiten Rücken durch mittelalterliche Burgen.
In den meisten Hindu-Tempeln Südindiens gehören Elefanten quasi zum Inventar. Sie stehen angepflockt nahe des Eingangs, nehmen Spenden von Gläubigen entgegen und legen “zum Dank” ihren Rüssel auf deren Scheitel, verteilen also göttlichen Segen. Wenn anlässlich von Hochzeiten oder religiösen Festen Prozessionen durch die Straßen ziehen, stellen reich geschmückte Elefanten deren Hauptattraktion dar. Ihnen gebührt das Privileg, die Statuen der Gottheiten zu tragen.
Der Mahaut Satyapalan weist darauf hin, dass die Elefanten in seinem Camp im Grunde Wildtiere sind, die durchaus auch gefährlich werden können. Daher müssten sie an Ketten gebunden werden. “Bei ihnen zuhause in Europa legen sie sogar kleinen Hunden Halsbänder um, wenn sie sie auf die Straße führen. Elefanten sind viel größer und stärker, daher müssen wir sie mit dicken Eisenketten bändigen. Elefanten sind eben keine Haustiere!”
Tierschützer beklagen, Tempelelefanten würden kaum unter artgerechten Bedingungen gehalten. Sie litten unter Bewegungsarmut, würden sich an den Ketten wund scheuern, wären durch die vielen Menschen und lauten Geräusche gestresst. Da verwundert es kaum, dass domestizierte Elefanten gelegentlich Amok laufen. Sie verwüsten ganze Straßenzüge und töten dabei auch Menschen. Tierschützer der Heritage Animal Task Force zählten im Jahr 2012 allein in Kerala 816 solcher Fälle, die zum Tod von 49 Menschen führten. Die Tierfreunde fordern, dass der private Besitz von Elefanten verboten werde und klagen dagegen beim obersten Gericht des Landes.
Natürlich ist Indien kein Paradies für Tiere, doch von Ausnahmen abgesehen bringen die Menschen ihren natürlichen Lebensgenossen Respekt und auch Liebe entgegen. Hindus verehren Ganesha, den Gott der Weisheit mit dem Elefantenkopf. Die Kuh gilt ihnen als gütige Mutter, als Sinnbild von Friedfertigkeit und Fürsorge.
Tierliebhaber in der Stadt füttern streunende Kühe, wilde Hunde, Katzen und Tauben. Im westlichen Indien, im Unionsstaat Maharashtra gewähren Bauern ihren Pflugochsen einen Feiertag, nachdem die Feldarbeit getan ist. Sie bemalen die Tiere mit bunten Ornamenten, hängen Bommeln an ihre Hörner und füttern sie mit saftigem Zuckerrohr.
Selbst lästige Moskitos werden höchstens mit einer Handbewegung verscheucht, niemals jedoch totgeschlagen. Die Religionen der Jains und der Buddhisten predigen das Prinzip “Ahimsa”, wörtlich Nicht-Gewalt, als alltägliches Handlungsgebot: Füge keinem anderen Lebewesen, egal ob Mensch oder Tier oder Pflanze Leid zu! Mahatma Gandhi nutzte den tiefen Glauben an Ahimsa für seine gewaltfreien, politischen Kampagnen.
Keine Einmischung in fremde Schicksale
Das indische Ethos, das in allen auf indischem Boden gewachsenen Religionen lebt, im Hinduismus, im Jaina, im Buddhismus und bei den Sikhs, begreift die Welt um uns herum als organische Einheit, in der das Wohl eines jeden Lebewesens vom Wohl anderer abhängt und den vielfältigen Einflüssen der Natur unterworfen ist. Bis heute ist auch der Glaube an die Macht der Gestirne weit verbreitet.
Selbst Geschäftsleute und Politiker konsultieren vor wichtigen Entscheidungen einen Astrologen. Im Volksglauben gelten Flüsse als Lebensspender und werden als Göttinnen verehrt. Der Ganges, besser gesagt Mutter Ganga, wird häufig als aus dem Haarschopf des mächtigen Gottes Shiva entspringend dargestellt. Die Hindus ordnen jeder Gottheit ein Reittier und Gehilfen zu, der oder die ebenfalls im Tempel verehrt wird. Nandi, der Stier, gehört zu Shiva, Göttin Durga reitet auf einem Tiger, der elefantenköpfige Ganesh sitzt auf einer Maus.
Diese Beispiele illustrieren ein Ethos, das keine Trennlinien zwischen diversen Erscheinungsformen der Natur kennt. Alles ist eins, Gott ist überall! Die Wurzeln dieses Denkens liegen in animistischen Kulten indigener Gemeinschaften (Adivasi), die sich mit den Ansichten der frühen Hindus, dargelegt in den Schriften der Veden, vermischten.
Was dem indischen Weltbild dagegen fehlt, ist das christliche Prinzip der Nächstenliebe. Buddhisten kennen die Achtsamkeit, die auch Mitgefühl mit anderen umfasst. Aber Mutter Theresa wird in Indien vor allem deshalb verehrt, weil sie sich wie kaum jemand anders selbstlos für die Kranken und Schwachen einsetzte, eine Haltung, die in der indischen Ethik nicht vorkommt. So gesehen ist es aus indischer Sicht keine menschliche Pflicht, leidenden Lebewesen beizustehen.
Das soll nicht heißen, dass es hier kein Mitleid gibt, aber es hat einen deutlich niedrigeren moralischen Stellenwert als im christlichen Abendland. Vielleicht ist dafür auch die Lehre vom Karma verantwortlich, die besagt, dass jedem Menschen ein bestimmtes Schicksal auferlegt ist, das aus früheren
Taten herrührt.
In diesem Leben gilt es als Pflicht, das Karma sozusagen abzuarbeiten, um sich dadurch von früheren Untaten und Sünden zu reinigen. Auf die Spitze getrieben bedeutet dies: Wer jemandem in der Not hilft, verhindert dadurch das Erfüllen des Karma und verdammt das Mitlebewesen dazu, noch länger an seinen Sünden zu arbeiten.
Mitleid und Hilfe ist hier also nicht ausschließlich positiv besetzt. Und so ist zu erklären, dass viele Menschen achtlos an Hungernden Mitmenschen vorüber gehen und nicht eingreifen, wenn ein Tier gequält wird. Die innere Stimme sagt: Das ist nicht mein Karma, ich bin hier nicht zuständig! Auch wenn mein Herz schmerzt, so mische ich mich lieber nicht in fremde Schicksale ein.
Traditionelle Tierverehrung in Gefahr
Nicht selten degenerieren jahrhundertealte Bräuche der Tierverehrung und verkehren sich dadurch teilweise in ihr Gegenteil. Beispiel: Das Hindu-Fest Nag Panchami, das während des Monsuns gefeiert wird. Wandermönche bringen Körbe mit lebenden Schlangen zu den Häusern der Gläubigen, um ihnen eine Gelegenheit zu geben, die Tiere mit Milch zu füttern und dadurch zu verehren. Die Mönche erhalten für ihren Dienst eine Geldspende.
Mittlerweile mischen sich jedoch viele Scharlatane unter die heiligen Männer, die den Schlangenkult als lukrative Geldquelle betrachten. Sie ziehen den Tieren die Giftzähne und halten dutzende Schlangen unter artfremden Bedingungen. Die Tradition der Schlangenverehrung hat sogar dazu geführt, dass in vielen Regionen wilde Schlangen gnadenlos gejagt und gefangen werden. Ihre Populationen sind dort drastisch geschrumpft.
Knapp zehn Prozent der indischen Bevölkerung gehört nomadisierenden Stämmen an, sogenannten “nomadic tribes”. Früher durchstreiften sie die Wälder und fanden dort durch Jagen und Sammeln ihren Lebensunterhalt.
Unter ihnen gab es auch Kleinkriminelle, die ihre Kenntnis der Wildnis nutzten, um sich durch Flucht der Strafverfolgung zu entziehen. Die britische Kolonialverwaltung nahm das zum Anlass, die Nomaden pauschal als “criminal tribes” zu diffamieren und gnadenlos zu verfolgen. Zeitweise organisierte die Kolonialarmee regelrechte Jagden auf die “thugs” (Verbrecher). Heute führen die meisten von ihnen, der Nutzungsrechte an den verstaatlichten Wäldern beraubt und von Geburt an als kriminell stigmatisiert, ein erbärmliches Leben.
Stark unter Druck nutzen viele ihre traditionellen Talente im Umgang mit Tieren, um etwa als Schlangenbeschwörer oder als Schausteller mit Tanzbären ein bescheidenes Einkommen zu verdienen. Tierschützer betrachten solche Berufe als Tierquälerei und sie versuchen daher, den Ex-Nomaden alternative Einkommensquellen zu erschließen, damit sie die Tiere befreien können.
Skrupellose Geschäftemacher nutzen auch die Hochachtung der Menschen für Elefanten aus, um schnelles Geld zu verdienen. Elefanten werden durch die abgasverseuchten Innenstädte geführt, um für ihre “Halter” zu betteln. An bekannten Touristenorten warten Elefantenführer auf zahlungskräftige Touristen, um ihnen einen Ritt hoch oben auf dem Rücken eines bunt bemalten Dickhäuters anzubieten.
Selbst die vermeintlich heiligen Kühe sind vor Stockhieben und Verwünschungen nicht sicher, wenn sie sich etwa bei der Futtersuche auf einen Gemüsemarkt begeben und sich an frischen Karotten und Früchten laben. Westliche Besucher weiden sich gerne am Anblick geduldiger und sanftmütiger Rindviecher, denen sie selbst in den Straßen indischer Megastädte begegnen.
Doch für die Kühe ist das Großstadtleben eine Qual. Abgesehen vom Lärm und Gestank des motorisierten Verkehrs müssen sie tagtäglich mit Nahrungsmangel kämpfen und ernähren sich von den Abfallhaufen, die sich vielerorts auftürmen. Dabei verzehren sie notgedrungen auch Papier, Metallstücke und unverdauliche Plastikreste. Tierschützer lesen häufig kranke Kühe auf und finden kiloschwere, mehr als fußballgroße Plastikklumpen in ihren Mägen.
Wenn in Indien Tiere gequält oder misshandelt werden, stecken meist menschliche Eitelkeiten, Profitsucht oder Armut dahinter. Wie anderswo auch verlieren hier viele Traditionen ihren Sinn, verkehren sich in ihr Gegenteil.
Das Ethos schenkt den Menschen ein Idealbild für korrektes Verhalten. Aber wie man im Straßenverkehr oder an der hohen Korruptionsanfälligkeit von Amtsträgern oder Politikern beobachten kann,, gelten Ideale und Regeln in Indien vornehmlich als abstrakte Ideen, an die man sich nicht streng halten muss. Wer es dennoch versucht und erfolgreich praktiziert, verdient hier den Status eines Heiligen!
Rainer Hörig
Rainer Hörig reiste als Student zum erstenmal nach Indien. Nach der Hochzeit mit einer indischen Deutschlehrerin ließ er sich 1989 in der südindichen Stadt Pune nieder. Er schreibt für deutschsprachige Hörfunkprogramme, Zeitungen und Magazine.