Die Versöhnungskreise vom Parents Circle
Den Schmerz als Verbündeten sehen, darauf beruht die Arbeit des Parents Circle in Israel. Eltern – Palestinenser und Israelis -, die Kinder durch Gewalt verloren haben, treffen sich, um ihre leidvollen Erfahrungen zu teilen und einander zuzuhören. Mit ihrem Engagement tragen sie bei zu einem Leben ohne Gewalt. Johannes Zang stellt das Friedens- und Versöhnungsprojekt vor.
„Dieser arabische Terrorist zu meiner Rechten, Bassam `Aramin, ist mein teuerster, liebster Bruder.” So augenzwinkernd-lächelnd pflegt Rami Elhanan seinen palästinensischen Mitstreiter vorzustellen. Tausende Male hat Elhanan so den Vortrag begonnen, in israelischen und palästinensischen Gymnasien, in Kenia, Ägypten und Dubai, in Europa und an vielen Orten der USA.
Elhanan und `Aramin verbindet zweierlei – der unsagbare, ewige Schmerz und der Kampf für ein Ende der israelischen Militärbesatzung. Und für echten Dialog, der eines Tages in Frieden und Versöhnung mündet.
Beide haben ihre Töchter in diesem Konflikt verloren, beweinen bis heute ihre Kinder, die nie erwachsen werden durften. „Am 4. September 1997 wurde unsere Blase, unsere heile Welt, in Millionen Stücke gerissen – durch zwei palästinensische Selbstmordattentäter”, bekennt Elhanan, dem man die 72 Jahre nicht ansieht. An diesem Tag verloren fünf Menschen in Jerusalems Fußgängerzone Ben Yehuda ihr Leben, „eine davon war meine 14 Jahre alte Smadar.”
“Was tun mit der Wut, die dich auffrisst?”
Elhanan, Graphiker und Designer, beschreibt jenen schwarzen Tag: Wie er mit seiner Familie durch die Straßen Jerusalems rennt, von einer Polizeiwache zur nächsten, von Klinik zu Krankenhaus, auf der fiebrigen Suche nach der Tochter. Spät in der Nacht dann musste er in einem Leichenhaus das sehen, „was du bis ans Lebensende nicht vergessen kannst.”
Sogleich schloss sich die siebentägige jüdische Trauerzeit Shiva an. Unzählige Menschen kamen ins Haus, schüttelten ihm die Hand, kondolierten. Am achten Tag riss dieser Strom von Trauergästen abrupt ab. Plötzlich sei man allein, allein mit Fragen wie „Was soll man mit der unerträglichen Last auf den Schultern anfangen? Was mit der Wut, die dich von innen heraus auffrisst?”
Elhanan spricht bei den Vorträgen mit Bassam Aramin offen von seinen starken Gefühlen, auch von Vergeltung und Rache. „Wenn jemand dein 14 Jahre altes Mädchen tötet, bist du so wütend, dass du es ihm heimzahlen willst. Das ist natürlich, menschlich, so entscheiden sich die meisten.”
Würde das jedoch die Tochter zurückbringen? Den eigenen Schmerz lindern?
Und dann stellte er sich die seiner Meinung nach „allerwichtigste Frage: Wie kann ich verhindern, dass dieser unerträgliche Schmerz anderen zugefügt wird?”
“Einander als Menschen sehen”
In Elhanans Leben gab es ein Jahr später einen anderen wegweisenden Tag. Er traf den Kippa-tragenden Yitzchak Frankenthal, dessen Sohn von der Hamas ermordet worden war und der trotzdem von Frieden sprach. Wie konnte der nur, zürnte Elhanan. Nicht nur das: Frankenthal hatte die Organisation Parents Circle gegründet.
Elhanan erinnert sich, dass auch Frankenthal unter „den Tausenden von kondolierenden Trauergästen” gewesen war. Dieser lud ihn zu einem Treffen des Elternkreises ein. Der Elterkreis ist eine Initiatve von Hinterbliebenen, die Angehörige im israelisch-palästinenischen Konflikt verloren haben.
Bei ihren Treffen ist das Mitteilen der eigenen leidvollen Geschichte wesentlich. Indem man die persönlichen Schilderungen der Opfer beider Seiten gelten lässt, kann vielleicht ein neues Kapitel der gegenseitigen Beziehungen beginnen, so die Überzeugung, Der Mangel an Vertrauen und Mitgefühl erhält den Gewaltkreislauf. Dem setzt der Elternkreis Toleranz und Versöhnung anstelle von Rache und Hass entgegen.
Die Israelin Robi Damelin – sie hat ihren Sohn im Wehrdienst durch einen palästinensischen Scharfschützen verloren – hält dies für wichtig, “damit wir die Dämonisierung des Gegenübers aufgeben.”
Für ihren Einsatz schöpft die Jüdin Mut von Nelson Mandela und der Anti-Apartheidbewegung. Sie hat dem Vater des Scharfschützen von ihrer Hoffnung geschrieben, “dass wir ein normales Leben ohne Gewalt führen können.” Sie sieht die Lösung des Konfliktes darin, dass sich die Menschen treffen und der Person hinter den Zahlen begegnen.
Elhanan rang mit sich, ob er das Angebot annehmen sollte, zum Elternkreistreffen zu gehen. Die Neugierde siegte. „Zynisch, distanziert, widerwillig” – mit dieser Haltung habe er „abseits stehend” die Ankunft der Teilnehmer beobachtet. Als die Israelis aus den Bussen stiegen, entdeckte er unter ihnen bekannte Persönlichkeiten, ja „lebende Legenden”, die er aus den Medien kannte. Alle hatten einen Angehörigen verloren und waren „trotzdem auf der Suche nach Frieden.”
Dann bemerkte Elhanan, damals 47 Jahre alt, etwas gänzlich Neues, „neu für Augen und Seele.” Palästinensische Hinterbliebene kamen auf ihn zu, „schüttelten meine Hand für den Frieden, umarmten mich, weinten mit mir.” Eine ältere Frau in traditionellem Gewand trug auf ihrer Brust ein Bild eines sechs Jahre alten Kindes.
Hoffen auf ein Leben ohne Gewalt
Elhanan bekennt, dass er da zum ersten Mal im Leben „Palästinenser als Menschen” sah, nicht als billige Arbeitskräfte in den Straßen Israels, nicht als so genannte Terroristen. Nein. „Als Menschen, die dieselbe Bürde mit sich tragen wie ich, die genau wie ich leiden.” Elhanan war zutiefst schockiert, berührt, ergriffen.
Er, nicht religiös, kann sich bis heute nicht erklären, was an jenem Tag vor 24 Jahren mit ihm geschah. Seitdem widmet er sein Leben dem Gespräch: „Wir sind nicht dem Untergang geweiht oder dem Schicksal verfallen. Es ist nicht unsere Bestimmung, uns gegenseitig in diesem unserem Heiligen Land für immer umzubringen. Wir können das ändern.”
Jahre später traf er Bassam Aramin. Bei dem Palästinenser aus Ost-Jerusalem war es ein Januartag 2007, der alles auf den Kopf stellte: „Meine zehnjährige Tochter Abir wurde von einem israelischen Grenzpolizisten kaltblütig erschossen, als sie mit Klassenkameradinnen vor ihrer Schule stand. Es gab weder Demonstrationen, Gewalt noch einen Aufstand.”
Aramin, seine Frau, sein Freund Rami und die 600 Familien des Elternkreises, so versichert er, „werden sich weiterhin engagieren und reden, bis die politisch Verantwortlichen uns folgen. Wir haben keine andere Wahl. Wir wollen verhindern, dass weiter Menschen sterben. Ich glaube, wir werden Erfolg haben. Die junge Generation will uns folgen, sie glaubt an unsere Botschaft. Wir setzen uns weiterhin ein, damit wir unseren Enkeln in die Augen schauen und sagen können: Wir haben alles versucht.”
Sein Freund Rami Elhanan ist überzeugt, dass der erste Schritt der Annähernung damit anfängt, „dem anderen zuzuhören.” Andernfalls „werden wir nicht den Ursprung seines Schmerzes verstehen können. Dann können wir auch nicht von ihm erwarten, dass er unseren Schmerz versteht. Damit fängt es an und damit wird es enden.”
Der Schmerz ist Dreh- und Angelpunkt der mühsamen Versöhnungsarbeit. Elhanan hält ihn für einen „gewaltigen Verbündeten.” Unzählige Male hat er seinem Publikum gegenüber beteuert: „Unser Blut hat dieselbe Farbe, unser Schmerz ist derselbe und unsere Tränen sind gleich bitter. Wenn wir, die wir den höchsten denkbaren Preis bezahlt haben, miteinander reden können, dann kann es jeder! Und jeder sollte es!”
Zur Website des Parents Circle Family Forum
Johannes Zang, Jg. 1964, hat fast zehn Jahre in Israel und Palästina gelebt. Er ist Autor, sein aktuelles Buch heißt “Erlebnisse im Heiligen Land”, erschienen bei Promedia Wien. Zang betreibt einmal pro Monat den Podcast Jeru-Salam. Seit 2008 hat er über 60 Reisegruppen durch Israel, Palästina und Jordanien begleitet.