Ein Interview mit dem Neurobiologen und Psychotherapeuten Joachim Bauer
Menschen reagieren aggressiv, wenn ihre Schmerzgrenzen berührt werden. Professor Joachim Bauer erklärt im Interview, wie wir destruktives Verhalten stoppen, unser Gehirn optimal nutzen und welche Rolle die Vernunft und Achtsamkeit dabei spielen.
Frage: Sie beschäftigen sich u.a. mit der Entstehung von Aggressionen und haben dazu auch Bücher und Aufsätze veröffentlicht. Wozu brauchen wir als Menschen Aggressionen, und wann sind diese hinderlich und destruktiv?
Joachim Bauer: Anders als von Sigmund Freud angenommen wurde und von einigen Sozialpsychologen auch heute noch behauptet wird, ist die Aggression, jedenfalls bei psychisch gesunden Menschen, kein triebhaftes Bedürfnis. Sie ist ein Verhaltensprogramm, das in bestimmten Situationen, in denen wir es für unser Überleben brauchen, aktiviert werden kann.
Wichtigster Auslöser für Aggression ist zugefügter körperlicher Schmerz. Da die Schmerzsysteme des Gehirns jedoch nicht nur bei körperlichem Schmerz, sondern auch bei sozialer Ausgrenzung und Demütigung ansprechen, wird verständlich, warum wir überall da ein erhöhtes Maß an Aggressionsbereitschaft sehen, wo Menschen die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verweigert wird.
Sie sprechen davon, dass der Mensch ein „Moralisches Kontrollzentrum“ habe, angesiedelt im Präfrontalen Cortex. Steht dieses für die Vernunft? Sollten wir mit den Mitteln der Vernunft gegen unangemessene Reaktionsweisen vorgehen?
Joachim Bauer: Das Stirnhirn, auch Präfrontaler Cortex genannt, ist eine echte Wunderkiste. Er hilft uns nicht nur, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren, wichtige Dinge im momentanen Bewusstsein zu halten, kurzfristige Interessen hintanzustellen und längerfristige Projekte zu planen. Fast noch wichtiger ist: Er speichert auch Informationen darüber ab, wie sich Dinge, die ich tue, aus der Sicht anderer Menschen darstellen. Er befähigt uns also zum Perspektivwechsel. Alle genannten Fähigkeiten haben mit dem zu tun, was wir „Vernunft“ nennen.
Die Einübung vernünftiger Reaktionsweisen ist entscheidend
Wie genau können wir dieses Kontrollzentrum ausbilden, pflegen und kultivieren? Gibt es dafür spezielle Übungen?
Joachim Bauer: Die Zentren des Präfrontalen Cortex können nur durch Einübung reifen. Dazu brauchen Kinder und Jugendliche uns, die Erwachsenen, die sie anleiten, bei einer Sache zu bleiben, sich zu konzentrieren, und die ihnen erklären, wie sich das, was sie gerade anstellen, aus der Sicht anderer Menschen darstellt.
Eine ganz wichtige Hilfestellung besteht darin, dass wir Erwachsenen Kindern und Jugendlichen Grenzen setzen. Nur so können junge Menschen üben und erlernen, eigene Impulse und kurzfristige Wünsche zugunsten wichtigerer Ziele zurückzustellen.
Kann man dieses Kontrollzentrum auch dann aktivieren, wenn die Wut gerade hochkocht, oder ist es eher eine langfristige Maßnahme, es zu stärken?
Joachim Bauer: Starke Affekte, egal ob es sich um verführerische Situationen mit großer Sehnsucht oder um große Wut handelt, sind für die Kontrollsysteme des Stirnhirns immer eine besonders schwierige Herausforderung, der wir Menschen – egal ob jung oder alt – oft nicht gewachsen sind. Aber auch hier ist es die Übung, die den Meister macht. Eine gute Übungsmethode ist zum Beispiel die Praxis der Stressbewältigung durch Achtsamkeit (Mindfulness-Based Stress Reduction / MBSR).
Sie betonen, wie wichtig es in der Erziehung ist, das Moralische Kontrollzentrum ca. ab dem 3. Lebensjahr zu entwickeln. Wie geht das, und was ist dafür notwendig?
Joachim Bauer: Eltern und Erzieherinnen sollten das Kind ab dem 3. Lebensjahr liebevoll, aber auch konsequent dazu anhalten, zu warten, zu teilen und seine Spontanimpulse zu regulieren. Kinder sollen vor allem lernen, ihre Emotionen sprachlich zu kommunizieren und nicht durch Gewalt auszudrücken.
Solidarität mit den Schwachen hilft gegen Gewalt
Sie sprechen auch die Aggressionen in einem größeren Maßstab an, etwa auf politischer Ebene. Würden Sie sagen, dass hinter Aggression und Gewaltanwendung vielfach ganz basale menschliche Bedürfnisse nach Respekt und Anerkennung stehen?
Joachim Bauer: Ausgrenzung und Demütigung kann Aggression nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Bevölkerungsgruppen und zwischen ganzen Völkern auslösen. Menschengruppen oder Länder, die im Angesicht von großem Wohlstand in krasser Armut leben, bilden einen Nährboden für Aggression.
Gibt es auch so etwas wie blinde Zerstörungswut – wie wir das im Moment im Zusammenhang mit dem Terror von IS sehen? Und wie beantwortet man diese?
Joachim Bauer: Bei den vielen jungen Menschen aus westlichen Ländern, die sich in den letzten Monaten dem IS angeschlossen haben, handelt es sich ganz überwiegend um junge Leute, die hier bei uns zu den Verlierern zählten. Es waren und es sind Leute ohne gute familiäre Bindungen, ohne die Chance auf eine gute Ausbildung oder einen Arbeitsplatz. Es sind fast immer die Loser, die sich von Extremisten und Terroristen anlocken lassen, in der Hoffnung, dort dann den Rächer und den Helden spielen zu können.
Ist Aggression erst einmal entfacht, kann sie – vor allem wenn jemand Zeuge großer Brutalität wird oder sich an brutalen Aktionen beteiligen musste – die Persönlichkeit von Menschen ändern, hin zu dem, was man als Psychopathie bezeichnet. Psychopathen sind Menschen mit krankhafter Lust an Gewalt.
Sie sagen auch, dass Gerechtigkeit die beste Gewaltprophylaxe sei. Sehen Sie also die Hauptverantwortung für Gewalt in den sozialen Verhältnissen und nicht beim Einzelnen?
Joachim Bauer: Sowohl als auch. Gefordert ist zunächst immer der Einzelne. Ebenso wichtig ist aber auch, dass die Gemeinschaft, die Gesellschaft als Ganzes sich solidarisch verhält, den Schwachen hilft und niemanden ausgrenzt, weder durch Armut noch wegen seiner religiösen Überzeugung noch wegen seiner ethnischen Zugehörigkeit.
Was könnte der Einzelne tun, um in einer ungerechten Welt dennoch an seiner Menschlichkeit festzuhalten und anderen nicht zu schaden?
Joachim Bauer: Viel. Vielleicht sollten wir wieder einmal so etwas wie die Dialoge des Sokrates lesen oder Senecas Buch über die Gelassenheit oder einfach einmal ins Neue Testament reinschauen.
Das Interview führte Birgit Stratmann. Lesen Sie auch den Beitrag von Joachim Bauer: “Aggressionen verstehen und begrenzen”
Prof. Dr. Joachim Bauer ist Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut. Er lehrt an der Universität Freiburg. Er ist Autor viel beachteter, allgemeinverständlicher Sachbücher, in denen er darstellt, welche Lehren wir im Alltag aus den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung ziehen können. Zur Frage der Gewalt erschien sein Buch „Schmerzgrenze – Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt“ Heyne Taschenbuch.
Es ist mir Bedürfnis, mal in dillettantischem Stil mal etwas zu dem Thema
Achtsamkeit beizusteuern. Ich bin 79, gesundheitlich ziemlich angeschlagen,
in guter medizinischer Betreuung -Uni-Klinik ffm, und möchte mich noch ein
wenig stabilisieren. So kam ich auch zur Achtsamkeit. Ich besorgte ein gutes
Buch, ging schon einige Male ins Internet und blieb nun bei Ihren Ausführungen stehen. Denn es ist das vollständigste, beste, was ich an
Ausführungen las. Nun ist man leicht geneigt, erst mal in die buddhistische Richtung zu blicken. Wie ich es sehe, ist es eine ganz normale Sache, die jeder begreifen und anwenden könnte und muß, um mit sich selbst und der Umwelt optimal und unbeschadet weiter leben zu können. Ich denke,ich habe es begriffen. Heute begegnete mir wieder manches (es fängt im Verkehrsgeschehen an, geht bei der Wahrnehmungvon schönen Dingen weiter). Mein Satz ist seit langem: ich
habe keine Zeit mehr, ließ mich hetzen, vergeude so die letzte Energie und
es kam nichts mehr zustande. Ich hoffe, was ich begreife, ich kann es ab sofort umsetzen. Danke, daß es wirklich kompetente Menschen wie Sie gibt, die nicht nur honorarheischend sind, die bestens zu vermitteln suchen. MfG ABuley ffm
mit sich selbst und seiner Umwelt optimal wieder