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Vertiefung der Achtsamkeit

Sajad Nori/ Unsplash
Sajad Nori/ Unsplash

Erfahrungen von Steve Heitzer

Achtsamkeitslehrer Steve Heitzer erlitt vor sechs Monaten einen Herzinfarkt. Heute sucht er nach Ansätzen für Veränderung: Mehr Pausen machen, auf tiefere Weise achtsam sein, mehr im Körper ankommen, mentale Dauerschleifen überwinden – Erfahrungsbericht über einen unfreiwilligen Selbstversuch.

„Wir müssen alle besser lernen, mit Stress umzugehen“, hatte meine Nachbarin gemeint, als wir über meinem Zusammenbruch sprachen. Und ich wehrte ab. Zu einfach. Zu naheliegend. Nicht bei mir. Ich? Stress? Ich hab wirklich keinen Stress. Ich tue beruflich, was ich gern tue, auch wenn es viel zu wenig Geld einbringt… Ich meditiere täglich. Mit Achtsamkeit, Stressbewältigung und Entspannung kenne ich mich aus.

Vielleicht gibt es keinen erkennbaren Grund und ich musste es einfach akzeptieren. Aber innerlich nagte die Frage weiter in mir. Die Antwort kam wie beiläufig im Gespräch mit meinem Physiotherapeuten. Er sprach von „psycho-emotionaler Erschöpfung“. Das traf mich wie der Blitz. Ich hatte mir in den vergangenen Jahren vieles zu Herzen genommen; für mein physisches Herz zu viel.

Doch es sind nicht nur die markanten Ereignisse und emotionalen Verletzungen. Es gibt auch unscheinbare, subtile, aber mächtige Muster, die zu dieser Erschöpfung beigetragen haben könnten. Der Therapeut umschrieb das mit dem Wort „mentale Dauerschleifen“, also eine hohe Intensität im Denken, im Tun, keine Pausen. Damit halten wir unser individuelles Hamsterrad selbst am Laufen.

Bestürzt musste ich beobachten, dass es mir tatsächlich an Pausen fehlte, auch wenn ich nicht der gestresste Unternehmer oder Manager bin, der von 7 bis 23 Uhr im Büro sitzt. Mir, meiner Seele, meinem Geist, meinem Herzen die natürlichsten Pausen der Welt geben, nicht ständig aufs Handy schauen. Und den Sonntag oder einen Tag der Woche heiligen – Was heißt eigentlich, „Pause machen“?

Mehr in den Körper spüren

Seit dem Herzinfarkt bewege ich mich innerhalb neuer Grenzen. Und immer wieder wird mir die Notwendigkeit gezeigt, körperlicher zu werden: Sitzend sitzen. Atmend atmen. Gehend gehen. Eigentlich das Einmaleins der Achtsamkeitspraxis.

Als ich die ersten Seiten von Martin Aylwards bemerkenswertem Buch mit dem Untertitel “Die Praxis verkörperten Gewahrseins” las, musste ich feststellen, dass meine Achtsamkeitspraxis immer noch zu viel im Kopf angesiedelt war.

In den ersten Wochen nach Intensivstation und Rehabilitation hatte ich viel mit meinem Körper zu tun. Und diese Übung bleibt mir erhalten. Schmerzen und Einschränkungen sind mühsam, aber sie haben etwas Gutes: Sie zwingen uns in den Körper. Eine seltsame Ausdrucksweise für wahr.

Aber wir dürfen anfangen zurückzukehren, uns selbst wieder einzusammeln, von „dort draußen“ und von „dort oben“, wo wir uns im Denken ständig bewegen und verlieren; heimzukommen nach innen und unten, wie Martin Aylward es beschreibt.

Mentale Dauerschleifen und Fallen

Der Anspruch und die Übung der Achtsamkeit, mehr Bewusstheit in das eigene Leben zu bringen, kann also durchaus eine Falle sein, noch mehr zu denken, statt weniger.

Selbsterkenntnis, sich selbst auf die Schliche zu kommen, ist ein wertvolles Gut, aber sich ständig zu hinterfragen kann auch dazu führen, noch mehr um sich selbst zu kreisen, den Geist aufzuwühlen und neue Ängste zu befeuern. Das trifft gerade dann zu, wenn Zustände auftauchen wie ein Druck auf dem Brustkorb, Unruhe, ein nervöses Herz. Wenn diese nicht körperlichen Ursprung sind (Blutdruck im Normalbereich), sind die Symptome gesundheitlich nicht besorgniserregend.

Aber sie beschäftigen einen. Was nun? Bilde ich mir das ein? Es ist gar nicht so leicht, sich in der Landschaft des Herzens zurecht zu finden. In einer erschütterten Seele auch nicht. Und der Kopf führt ohnehin sein Eigenleben.

Dem Leben vertrauen, auch meinem Leben

Doch im Vordergrund steht die Frage: Was muss ich nun alles verstehen und verändern? Kann ich meinem erschütterten Herzen, meinem zerbrechlichen Leben neue Entfaltung zutrauen? Und wie vertiefe ich die Achtsamkeit?

Ich nehme im Alltag öfter wahr, was mich stresst, was Druck macht. Und oft spüre ich es auch schneller körperlich. Daran kann ich jetzt arbeiten. Mein Körper ist mir näher.

Mein Leben sucht eine neue Balance zwischen „auf mich achten“ und nicht in die Angst gehen; ganz alltägliche Dinge, aber auch neue Pläne und Projekte nicht zu schnell zurückzuziehen. Immer wieder abwägen und besser spüren: Welche Bitten ausschlagen, im Kleinen wie im Großen? Welche Termine absagen? Was kann ich mir körperlich – jetzt, überhaupt, morgen? – wieder zumuten, beruflich, am Computer, am Telefon, im Haushalt, im Garten, handwerklich?

„Sie können wieder alles machen!“

Sie können wieder alles machen, meinte mein Hausarzt schon nach wenigen Monaten. Das ist schön und schwierig zugleich: Wenn ich wieder alles machen kann, gibt es auch keinen Grund mehr, nicht(s) zu machen. Will ich wieder alles machen? Soll ich wieder alles (wie vorher) machen? War das alles nur ein kleiner Absturz? Einfach neu starten, und die Maschine wird wieder laufen?

Re-set und Re-start sind gut. Aber es wird auch notwendig sein, meinem Leben auf den Grund zu gehen. Und ihm zu vertrauen. Dass es mir zeigt, was jetzt gerade wichtig ist, etwa immer wieder anzuhalten, Pausen zu machen, einfach zu sein.

Viel genauer und sensibler hinzuspüren, wo kleine Veränderungen und wo echte Neu-Anfänge nötig und wo sie auch möglich sind. Und zugleich und immer immer wieder: den Druck rausnehmen. Dem Leben vertrauen, auch auf seine Selbstheilungskräfte, seine Re-organisation. „Lass das Leben in Ruhe. Lass es sein!“ (Eckhart Tolle)

Foto: privat

Steve Heitzer ist Achtsamkeitslehrer, Seminar- und Retreatleiter und lebt in Österreich. Neben Achtsamkeit und Pädagogik ist einer seiner Schwerpunkte die interspirituelle Begegnung von moderner Achtsamkeitspraxis, zeitgenössischer Weisheitslehre und der Botschaft Jesu. Zu seiner Website

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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