von Gerald Hüther
In der Geschichte haben sich hierarchische Gesellschaftsstrukturen herausgebildet. Doch Hierarchie funktioniere in der komplexen Gesellschaft nicht mehr, sagt der bekannte Neurowissenschaftler Professor Dr. Gerald Hüther. Es gehe darum, die Würde, also das zutiefst Menschliche in uns selbst zu entdecken, um in komplexer Welt leben zu können.
Jede menschliche Gemeinschaft braucht eine strukturierende Kraft. Während der letzten zehntausend Jahre war es die Herausbildung, Stabilisierung und Tradierung hierarchischer Ordnungen, die dafür sorgte, dass das Durcheinander in den immer größer werdenden Gesellschaften nicht überhand nahm und alles in möglichst geordneten Bahnen ablief.
Mit der Sesshaftwerdung und der Herausbildung von Ackerbau und Viehzucht waren unsere Vorfahren gezwungen, eine ihr Zusammenleben ordnende hierarchische Gesellschaftsstruktur zu entwickeln. Ohne Anführer, die allen anderen sagten, was diese zu tun und zu lassen hatten – und ohne klare Zuweisung und bereitwillige Übernahme der jeweiligen, hierarchisch geordneten Rollen durch ihre Mitglieder – hätte wohl keine dieser frühen Gesellschaften ihren Fortbestand wahren können.
Als besonders vorteilhaft erwies sich diese hierarchische Ordnung bei kriegerischen Auseinandersetzungen. Weil dies aber auch immer die Möglichkeit eines „Aufstiegs“ einzelner, besonders erfolgreicher, kenntnisreicher oder erfinderischer Mitglieder von unteren auf höhere Positionen bot, breitete sich dieses hierarchische Ordnungsprinzip allmählich in alle anderen Bereiche des Zusammenlebens in diesen zunehmend größer werdenden Gesellschaften aus.
Hierarchie und Wettbewerb lösen unsere Probleme nicht
Überall, in der Produktion, im Handel, im Finanzwesen, in Familien und Sippen, sogar in Kirchen und Klöstern gab es Personen, die anderen vorschrieben, was sie zu machen hatten. Und überall in diesen Hierarchien strebten die Untergebenen mit all ihrer Kraft danach, in höhere Positionen aufzusteigen.
Möglich war das durch die Aneignung von besonders viel Wissen und Können, aber vor allem durch neue Entdeckungen und Erfindungen, die sie machten, also durch all das, was wir heute als wissenschaftlich-technische Innovationen bezeichnen. Der Wettbewerb um entsprechende Aufstiegschancen durch die Erbringung herausragender Leistungen führte zwangsläufig dazu, dass die anfangs noch recht gut überschaubare Welt, in der die Menschen lebten, sich enorm ausweitete und immer komplexer wurde.
Als vorläufiges Ergebnis dieses sich selbst verstärkenden Entwicklungsprozesses entstand die hochtechnisierte, digitalisierte und globalisierte Welt, wie wir sie heute kennen. Und in dieser hochkomplexen, untrennbar vernetzten und in allen Bereichen voneinander abhängig gewordenen Welt ist nun ein Problem entstanden, das es in der gesamten Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hatte:
Die alte hierarchische Ordnungsstruktur erweist sich nun als grundsätzlich ungeeignet, um die Stabilität dieser hochentwickelten heutigen Gesellschaften zu sichern, geschweige denn ihre künftige Entwicklung zu steuern. Sie hat ihre Orientierung-bietende und Ordnung-stiftende Kraft durch genau das verloren, was sie selbst erzeugte: einen enormen Zuwachs an Komplexität.
Einen neuen Kompass finden
Weiter geht es daher nicht mit einem „noch mehr vom Alten“, also den Rückgriff auf die bisher bewährte, hierarchische Ordnungsstruktur. Weiter geht es aber auch nicht ohne irgendeine Orientierung-bietende Struktur. In diesem Dilemma sind unsere gegenwärtigen hochentwickelten Gesellschaften gefangen.
Daraus befreien können sie sich nur, wenn es ihnen gelingt, ihren Mitgliedern die Herausbildung eines individuellen, aber für alle gleichermaßen gültiges und verbindliches Ordnungsprinzip zu ermöglichen. Sie alle bräuchten also so etwas wie einen inneren Kompass, dessen Nadel in die gleiche Richtung weist: dorthin, wo sie ihr Leben und ihr Zusammenleben im Bewusstsein ihrer Würde als Menschen gestalten.
Die allmähliche Herausbildung einer Vorstellung und eines Bewusstseins menschlicher Würde ist also kein Zufall, sondern zwangsläufige Folge der von uns Menschen geschaffenen, nun zunehmend komplexer und unüberschaubarer werdenden Lebenswelt. Jede Zivilisation erreicht irgendwann ein Stadium ihrer Entwicklung, wo es so wie bisher nicht mehr weitergeht.
Die dann erforderliche Lösung für dieses Problem ist aber in ihr – und damit in den Menschen, die diese Entwicklung über Generationen hinweg durchlaufen – von Anfang an als biologische Möglichkeit, als Potential angelegt: in unserer eigenen Beschaffenheit, oder präziser: In der inneren Organisation und der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns muss es also eine Besonderheit geben, die es nicht nur möglich, sondern irgendwann sogar zwingend erforderlich macht, dass wir als Menschen eine Vorstellung unserer eigenen Würde entwickeln.
Erstmals eröffnet sich uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Perspektive, die unvermeidbar zu der entscheidenden Frage führt, was uns Menschen – trotz unserer unterschiedlichen Herkunft, Erfahrungen und historischen Eingebundenheiten – miteinander verbindet. Auch das kann nur eine von Menschen entwickelte Vorstellung sein, aber eine, die alle Menschen nicht nur trotz, sondern aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit miteinander teilen.
Keine Ideologie, keine Religion, keine ethische oder moralische Wertvorstellung ist dafür geeignet. Die einzige, alle Menschen in all ihrer Verschiedenheit verbindende gemeinsame Vorstellung kann nur die von ihnen selbst gemachte Erfahrung ihrer eigenen Würde als Menschen zum Ausdruck bringen. Das zutiefst Menschliche in uns selbst zu entdecken, ist meines Erachtens zur wichtigsten Aufgabe im 21. Jahrhundert geworden.
Gerald Hüther
Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland. Praktisch befasst er sich im Rahmen verschiedener Initiativen und Projekte mit neurobiologischer Präventionsforschung. Er schreibt Sachbücher, hält Vorträge, organisiert Kongresse, arbeitet als Berater für Politiker und Unternehmer und ist häufiger Gesprächsgast in Rundfunk und Fernsehen.
Studiert und geforscht hat er in Leipzig und Jena, dann seit 1979 am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen. Er war Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von 2004 bis 2016 als Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen beschäftigt. 1994-2006 leitete er eine von ihm aufgebaute Forschungsabteilung an der psychiatrischen Klinik in Göttingen. 2015 Gründung der Akademie für Potentialentfaltung und Übernahme ihrer Leitung als Vorstand. In seinem aktuellen Buch “Würde: Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft” stellt er die Frage:”Wir alle wollen in Würde sterben, doch wollen wir nicht erst einmal in Würde leben?” Hier geht es zum Aufruf „Es geht um unsere Würde“
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