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Was gut ist, und was nicht

Foto: privat
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Philosophische Kolumne

Am Frankfurter Hauptbahnhof kann mir keiner sagen, wie es weiter geht. Die Gewerkschaft EVG streikt und die Notfallmaßnahmen der Deutschen Bahn vermitteln erneut den Eindruck, als versuchten durchaus bemühte Dilettanten zum ersten Mal eines solchen Problems Herr zu werden.

Die kaum zu verhindernden Windows-Betriebssystem-Aktualisierungen treiben mir regelmäßig die Schweißtropfen auf die Stirn, denn beim letzten Funktionsupdate lieferte Microsoft zunächst eine Version aus, die in einigen Fällen persönliche Fotos und Dokumente der Nutzer nahezu unwiederbringlich löschte.

Immer häufiger ärgern uns Dinge, die zu schnell kaputtgehen oder Abläufe, die suboptimal gestaltet sind – von Alltagsgegenständen wie dem Reißverschluss der neuen Jacke, der schon beim dritten Anziehen klemmt, bis hin zu Gesetzen wie der Mietpreisbremse, die offenbar keinerlei Wirkung zeigt.

Dramatisch wird es, wenn wie im August 2018 bei Genua eine Autobahnbrücke einstürzt, zahlreiche Menschen mit sich in die Tiefe reißt und sie unter tonnenschweren Betonteilen begräbt. Man könnte verleitet sein, fatalistisch Fontanes Hexenfluch aus dem Gedicht über die Brücke am Tay zu zitieren: „Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand“.

Doch es waren keine magischen Mächte im Spiel; die Katastrophe wäre vermeidbar gewesen. Die Ursachensuche dauert an, doch was immer es war, es war ein Mangel an Qualität: Qualität der statischen Berechnungen, der notwendigen Kontrollen, der (nicht) ausgeführten Instandhaltungsarbeiten oder der Einschätzung der Gesamtsituation angesichts klimatischer Veränderungen.

Qualitätsmanagement gehört mittlerweile zwar zur Pflichtübung moderner Unternehmensführung und wird im Gesundheitswesen, in der Pflege und in der Bildung sogar von unabhängigen Stellen zertifiziert. Ein Garant für Güte ist die dokumentierte Konformität mit vordefinierten Standards beileibe nicht. Sie liefert eine rein formale, allzu rasch zuhandene, fast hilflos wirkende Antwort auf das Bedürfnis nach Qualität.

Auf der Suche nach anregenderen Hinweisen ist mir nach vierzig Jahren wieder ein Buch in die Hände gefallen, das damals nachhaltig mein Interesse an Philosophie weckte: Robert M. Pirsigs Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten. Der stark autobiographisch fundierte literarische Roadmovie, gleichzeitig tastende Annäherung eines ehemaligen Universitäts-Dozenten an sein verschüttetes früheres Selbst, geizt nicht mit philosophischem Hintergrund und beschäftigt sich mit grundlegenden Fragen der Metaphysik, Erkenntnistheorie und Ethik.

Im Zentrum steht der Begriff der Qualität, den Pirsig versuchsweise als Wurzel all unseres Denkens setzt. Als Motto stellt er seinem Roman ein zugespitztes Zitat aus einem Dialog Platons voran: „Was aber gut ist, Phaidros, und was nicht – müssen wir danach erst andere fragen?“ Wenn es tatsächlich stimmt, was diese rhetorisch klingende Frage suggeriert, dann wissen wir alle vorgängig schon, wie Qualität aussieht.

Sicher fallen uns Gegenbeispiele ein, doch seien wir ehrlich: meist spüren wir intuitiv ganz genau, ob wir unseren Qualitätsansprüchen gerecht werden. Warum erfüllen wir sie dann so häufig nicht? Die Gründe sind vielfältig: Der Aufwand scheint nicht im Verhältnis zum Nutzen zu stehen, man sagt uns, 80 Prozent täten es auch. Dabei gilt sogar rein ökonomisch gesehen: Wer’s gleich gut macht, braucht keine aufwändige Wiedergutmachung, die ohnehin fast nie vollständig gelingt.

Oder die Frage nach dem Guten wird zu früh abgebrochen: gut ist noch nicht schon, was zweckrational ein unhinterfragtes Ziel möglichst effektiv und effizient erfüllt. Die Ingenieure der Automobilindustrie, die ausgeklügelte Tricks zur Abgasmanipulation im Prüfbetrieb ersonnen, haben eben keinen „guten Job“ gemacht, indem sie den auch von ihnen mit zu verantwortenden Gesamtzusammenhang, umweltfreundliche Antriebe zu entwickeln, ausblendeten.

Umgekehrt reicht lautere Absicht allein gleichfalls nicht hin. Handwerkliche Kunst und Mühe sind unverzichtbare Zutaten. Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. Es genügt auch nicht, etwas prinzipiell zu beherrschen und routiniert abzuspulen.

Die Spieler der deutschen Fußballnationalmannschaft, die angeblich zwar jede Menge „Qualität haben“, diese aber bei ihrem blamablen WM-Ausscheiden nicht auf dem Rasen unter Beweis stellen konnten, boten ein beschämendes Schauspiel. Der Buhruf kommt dem Zuschauer leicht über die Lippen, aber wie sieht es eigentlich dort aus, wo wir selbst auf unserem Platz stehen? Bleiben wir nicht oft genug hinter unseren eigenen Ansprüchen an unsere Arbeit oder unser Verhalten zurück?

Zu den Geschädigten mangelnder Qualität zählen nicht nur die Opfer vermeidbarer Unglücke und die Leidtragenden defektiver Produkte, sondern wir alle als Schaffende und Gestaltende, die sich mit weniger begnügen lernen, als sie selbst für nötig hielten: wir opfern ein Stück unserer Arbeitsehre, ja unserer Würde. Etwas auf den ersten Blick gerade mal gut genug zu tun, hinterlässt Leere und verschafft keine anhaltende Befriedigung. Stolz auf das schlampig Geleistete oder ebengerade so Funktionierende ist niemand, auch wenn das Ergebnis mit minimalem Aufwand und Kosten erzielt wurde.

Wäre nicht umgekehrt ein gelingendes Leben genau das: ein Leben, das sich am Guten orientiert – im bewussten Bemühen, gute Arbeit zu leisten, gute Beziehungen zu anderen und zur Umwelt zu pflegen? Zwanghafter Perfektionismus hilft eher wenig (dennoch dürfen wir uns an dieser Stelle einmal daran erinnern, dass wir den geschmähten Perfektionisten zuweilen viel verdanken, wo es um Sicherheit und Zuverlässigkeit geht); es bedarf eines spielerischen Umgangs mit der Welt, der sich im Spiel dennoch ganz ernstnimmt, im hingebungsvollen Sich-Einlassen die Zeit vergisst und sich am Ende mit dem Entstandenen selbst überrascht.

Paradoxerweise entsteht Qualität gerade nicht durch die verbissene Fixierung auf das optimale Ergebnis – sie scheint sich eher im Vollzug zu ereignen, auf der Grundlage einer Haltung, die die Aufgabe im Vertrauen auf erworbene Kompetenzen guten Mutes angeht, Störungen des Plans und erkannte Unzulänglichkeiten nicht unwillig beiseite drängt, sondern aufgreift und kreativen Lösungen zuführt. Dazu gehört es, den tieferen Sinn der eigenen Aufgabe zu verstehen, diesem gemäß zu handeln und dabei widerständige Resonanz von Dingen und Menschen zuzulassen, die echte Begegnung erst ermöglicht.

Lebensqualität erschöpft sich kaum in der Verfügbarkeit möglichst zahlreicher (mängelbehafteter) Optionen und Dienstleistungen, sondern besteht auch darin, wie zufrieden wir mit den Verrichtungen und Handlungen sein können, für die wir die Verantwortung tragen. Wenn wir unser Leben in Qualität gestalten wollen, dürfen wir uns ihrem Anspruch nicht verweigern. Was gut ist und was nicht, danach müssen wir vor allen anderen uns selbst fragen.

Ludger Pfeil, 25. Dezember 2018

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