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Was ist eigentlich Intelligenz?

Cover bridle Die unfassbare Vielfalt des Seins

Ein Buch, das die Welt anders denkt

Menschliche Intelligenz wird überbewertet, so James Bridle. Sie hat uns sogar an den Rand der Zerstörung gebracht. Der Wissenschaftler und Künstler erforscht die Vielfalt lebendiger Intelligenzen – in Urwäldern, Meeren und im Silicon Valley. Damit will er zeigen, was wir als Menschen von der Natur lernen können, um den Planeten zu retten.

Die Spätsommersonne und das Bimmeln von Ziegenglocken begleiten den britischen Kognitionswissenschaftler, Künstler und IT-Experten James Bridle bei seinen Betrachtungen im griechichen Pindus-Gebirge, mit denen sein Buch beginnt. Eine leider nur scheinbare Idylle mitten in einem Gebiet, in dem sich ein spanischer Energiekonzern und das Unternehmen IBM Watson sei fast zehn Jahren daran machen, riesige Ölvorkommen aus der griechischen Erde zu fördern

Bridle stellt gleich zu Beginn die Frage, ob zerstörerische Technologien, die der Mensch im Namen des technischen Fortschritts zur Ausbeutung des Planeten einsetzt in irgendeiner Weise intelligent genannt werden können.

Intelligenz ist ein Begriff, der gegenwärtig in Dualismen zwischen menschlich und technisch, künstlich und natürlich, freundlich oder feindlich aufgerieben zu werden droht. Und letztlich scheint kaum jemand zu wissen, was er eigentlich beschreibt.

Die einzige Definition, auf die sich Menschen einigen können, beschreibt Intelligenz als das, „was Menschen tun.“ Jede andere Form von Handeln, Verhalten, Denken oder Sprechen messen wir daran. Das geschieht vor dem Hintergrund, dass es ebendieses Tun ist, was nicht nur die Lebensgrundlage des Menschen, sondern des gesamten Planeten bedroht.

Ökologisches Denken in Beziehungen

James Bridle begnügt sich aber nicht mit der Kritik an dieser einseitig menschlichen Perspektive. Ihm gelingt es in seinem Buch, das Bild und das Verständnis für das zu weiten, was er als „ökologische Intelligenz“ beschreibt.

Gemeint ist damit ein relationales Denken, das auch vom Menschen in Sprechen und Handeln zum Ausdruck gebracht, aber doch nur in Zusammenhang mit seiner natürlichen Umwelt, mit den zeitlichen und biologischen Gegebenheiten zu gemeinschaftlichen Lösungen finden kann bzw. könnte.

Dies wären Lösungen, die auf völlig anderen Wegen zustande kommen könnten als das, was unser vermeintlich fortschrittliches Denken in Abstraktionen und Fragmentierungen erreicht hat. Ändern wir diese Kriterien hören wir der „mehr als menschlichen“ Welt, wie Bridle sie nennt, neu und anders zu, versuchen wir Tiere und Pflanzen in das einzubeziehen, was intelligentes Verhalten beschreibt, dann ändert sich der Blick.

Die denkende Aufmerksamkeit richtet sich dann auf das, was an den Grenzen des Eigenen Verbundenheit und Gemeinschaft erzeugt, das, was sich symbiotisch ergänzt und nicht auf das, was trennt, Mauern baut oder Disziplinen voneinander abgrenzt.

Und dies beschreibt Bridle weniger als eine geistige Haltung, mit der wir einen anderen, spirituellen Blick für die Verwobenheit des Lebendigen bekommen, sondern als eine andere Perspektive, die notwendig ist, um der Sackgasse menschlich gedachter Innovation und Fortschrittsideologie etwas anderes entgegenzusetzen.

Sind Tiere verantwortliche Subjekte?

Dabei gibt James Bridle so reichhaltige und lebendige Beispiele aus den Grenzbereichen zahlreicher Wissenschaften, dass sich sein Buch wie eine Abenteuerreise durch die Welt der Biologie, Philosophie, Politikwissenschaft und Technologiegeschichte liest. Es zeigt, wie sehr es auf der Suche nach innovativen Lösungen eben auf gerade diese Mischung ankommt.

Der Autor berichtet von Gerichtsprozessen im Mittelalter, in dem Schweine und Ratten auf der Anklagebank saßen und so als verantwortliche Subjekte angesehen wurden – eine absurd scheinende Maßnahme, die dennoch zeigt, dass die Entscheidung, Tiere rechtlich als „Sache“ zu bewerten, nicht immer so war und anders gesehen werden kann.

Die Frage, an welcher Grenze wir glauben, uns als vermeintliche Krone der Schöpfung eine solche Bewertung anzumaßen, stellen wir uns zum Beispiel beim Lesen der Berichte über die Ausbruchsversuche von Oktopussen oder wenn wir die Wanderung von Wölfen daran messen wollen, wie weit der eigene Peilsender reicht

Eine neue Weltsicht entwickeln

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die eigenen Gewissheiten immer wieder auf den Prüfstand zu stellen, ohne sich dabei von sinnvollen und begründbaren Kriterien zu verabschieden. Allein der Kontext wird ein anderer, und die Selbstüberschätzung menschlicher Erkenntnisfähigkeit wird entlarvt, ohne das Menschliche damit abzuwerten.

Eine relationale Intelligenz entwickelt sich in der Begegnung und in dem Mut, Zufälligkeit einzubeziehen und Unwissenheit als Teil des eigenen Strebens anzunehmen, dem sich nicht durch Lösungen oder Ergebnisse beikommen lässt. Das, was die lebendige Welt zusammenhält, ist mehr, als wir Menschen jemals zu denken imstande sein werden. Damit kann sich Intelligenz nicht auf das beschränken, was der Mensch tut.

Geheimnisse und Andersartigkeiten, die wir im Tier- und Pflanzenreich vorfinden, lassen sich nicht immer erklären. Sie zeigen jedoch, was wir brauchen, um auf dieser Welt weiter miteinander leben zu können – und hier bezieht Bridle auch explizit das mit ein, was er als eine „Ökologie der Technik“ beschreibt.

Die Technologien, mit denen wir die Erde bisher als Ressource genutzt und damit ausgebeutet und zerstört haben, lassen sich anders nutzen, u.a. auch dafür, die Natur besser zu verstehen: das Verhalten der Kopffüßler, die geheimnisvolle Wanderung von Bäumen, das Verhalten von Schleimpilzen zur Lösung komplexer mathematischer Probleme. All das lohnt sich staunend im Lesen nachzuverfolgen, um sich selbst im Aushalten von Verwirrung und neuen Gedanken zu prüfen.

James Bridle erklärt uns nicht nur „Die Unfassbarkeit der Unendlichkeit des Seins“, er macht sie im Lesen spürbar und lädt ein, sich auf ein hoffnungsvolles Experiment in der eigenen Weltsicht einzulassen. Ein großes Vorhaben, das wir heute dringend in die Tat umsetzen sollten – und anfangen könnten wir mit der Lektüre dieses wunderbaren Buches.

Ina Schmidt

James Bridle. Die unfassbare Vielfalt des Seins. Jenseits menschlicher Intelligenz. C.H. Beck 2023

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