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Was Krieg mit Menschen macht

Ullstein
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Geschichte einer Familie im Zweiten Weltkrieg

Reinhold Beckmann gelingt es, die Geschichte seiner Mutter und ihrer vier Brüder während des Zweiten Weltkriegs schonungslos wiederzugeben. Ein Buch über die Verstrickung der Deutschen in Krieg und Gräueltaten. Aber auch über die ungewöhnliche Stärke seiner Mutter, die über ihre Verluste und Erinnerungen sprechen konnte.

Aenne Beckmann, die Mutter des ehemaligen ARD-Moderators und heutigen Musikers Reinhold Beckmann, blieb ihr Leben lang mit ihren im Krieg gefallenen Brüdern Franz, Hans, Alfons und Willi verbunden. So beschreibt es der Biograf Beckmann gleich zu Anfang seines Buches.

„Sie hat mir oft von ihnen erzählt“, erinnert er sich. „Kurz vor ihrem Tod hat meiner Mutter mir einen Schuhkarton voller Briefe vermacht. Es sind die Feldpostbriefe ihrer Brüder, die meine Onkel ihrer kleinen Schwester von den verschiedenen Fronten des Zweiten Weltkriegs geschrieben haben. Meine Mutter hat sie fein säuberlich aufbewahrt – genauso wie ihre Erinnerung“, schreibt der Autor.

Seine Familienbiografie ist beides: der Versuch, die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten, ohne etwas zu beschönigen. Und das Anliegen, der Nachwelt zu zeigen, wie grausam und sinnlos Krieg ist.

Beckmann begann seine Arbeit an dem Buch drei Tage bevor russische Truppen im Februar 2022 die Ukraine angriffen. Das gibt seiner Arbeit noch mehr Intensität und Aktualität. Das Buch ist ein geradezu erschütterndes Zeugnis von Gewalt und skrupelloser Machtausübung.

Allerdings ist die Lektüre emotional sehr anstrengend: zeichnet der Autor über weite Teile des Buches doch die leidvollen letzten Lebensjahre der Onkel nach. Ein verstärkter Blick auf seine Mutter hätte dem Leser gewiss mehr Hoffnung und Lebensbejahung vermittelt.

„Man kann vor Kälte nicht in den Schlaf kommen“

Der Autor rekonstruiert anhand der Aufzeichnungen seiner Onkel und anderer historischer Quellen nicht nur das Geschehen an der Front, sondern auch das Alltagsleben der deutsche Bevölkerung.

Viele Menschen waren aufgrund der täglichen Mühen in Handwerk oder Agrarwirtschaft weder in der geistigen noch finanziellen Lage, sich ausführlich mit Politik zu befassen.

Neben der wirtschaftlichen Not wurde die Bevölkerung – ähnlich wie im heutigen Russland – durch umfassende Propaganda indoktriniert und über die wirklichen Beweggründe und Taten der Führung getäuscht.

Von der Front – das zeigen die anfangs teilweise verharmlosenden Briefe der Brüder – durfte die Wahrheit nicht durchsickern. Welcher Bruder schreibt seiner bangenden Mutter oder Schwester, was für Verwüstungen, Umstände und Gräuel er an der Front tagtäglich erleben muss?

Aennes ältere drei Brüder lassen erst nach rund zwei Jahren im Krieg wenige Sätze fallen, die das tagtägliche Geschehen um gefallene Freunde und getötete Feinden erahnen lassen.

So schreibt ihr ältester Bruder: „Hier sieht es auch sehr traurig aus, aber wo sieht es in Russland nicht wohl traurig aus (…) zu beiden Seiten Sumpf und Morast. Seit einigen Tagen ist es wieder fürchterlich kalt, alle Tage Schneetreiben (…). Man kann vor Kälte nicht in den Schlaf kommen, man klappert förmlich am ganzen Körper. (…) Wann hat doch bloß diese verfluchte Zeit ein Ende. (…)“

Dazu Beckmann: „Goebbels hat längst registriert, dass eine Flut von Klagen die Heimat erreicht. Soldaten schreiben vergleichsweise offen über ihre Lage an der Ostfront. (…) Damit die Heimatfront nicht auch noch wackelt, steht in den Mitteilungen für die Truppe eine Aufforderung an die Soldaten, sich nicht propagandistisch zu betätigen. ‘Wer jammert und klagt, der ist kein rechter Soldat’.“

Putin und der Krieg

Beckmann blendet in seiner Arbeit nichts aus. So schreibt er über die 900 Tage dauernde Einkesslung Leningrads, in der 470.000 Russen ausgehungert wurden und starben. Unter den ausführenden Soldaten ist auch Beckmanns Onkel Franz.

Vladimir Putins fünf Onkel wurden bei der Blockade vermutlich getötet, seine Mutter überlebt nur mit großen gesundheitlichen Schäden. Und Putins Vater litt lebenslang unter Granatsplittern im Bein.

Einmal mehr verknüpft Beckmann hier jüngere Zeitgeschichte mit der Gegenwart: „Vladimir Putin hat 2015 für das kremlnahe Magazin Russkij Pioner einen Artikel über das Schicksal seiner Familie geschrieben. Putin ist Jahrgang 1952. Er hat also, sollte diese Geschichte stimmen, fünf seiner Onkel nie kennengelernt.“

Tiefe Bewusstmachung beim Leser

Nicht einer der vier Brüder, die zum Ende des Krieges zwischen 18- und 31-Jahre jung waren, kam nach dem Krieg zurück. Welch eine persönliche Tragödie für Beckmanns Mutter! Und welch ein Sinnbild für die tiefen Verwundungen und Traumata, mit denen die Familien, die wieder zusammenfanden, weiterlebten.

Wer kennt es nicht aus seiner eigenen Familie, dass ein Großvater nach schrecklichen Kriegsjahren in Russland noch Jahre in Kriegsgefangenschaft verbrachte? Die seelischen Belastungen der Soldaten, die den Tod vieler Menschen zu verantworten haben, sind kaum aufgearbeitet worden. Und wie sollte ein heimgekehrter Vater Mitgefühl, Nachsicht und Erbarmen gegenüber den Opfern walten lassen, wenn er gelernt hat, solche Gefühle als Schwäche anzusehen?

Oder eine Großmutter Oma oder Mutter zu Gefühlen tiefer Verbundenheit zurückfinden, wenn ihr so viele Bindungen durch den Tod genommen wurden? Und wenn einer Frau während und nach dem Krieg so viele Härten im Alltag aufgebührdet werden, wie sehen dann ihre Beziehungen aus?

Das Buch regt eine tiefe Bewusstmachung beim Leser an. Es ist zwar schmerzvoll, aber heilsam, die deutsche Geschichte in der eigenen Familie aufzuarbeiten.

„So viel ungelebtes Leben“

Das Weiterleben von Beckmanns Mutter nach dem Verlust beinahe ihrer ganzen Familie ist auch ein beispielloses Bild für Lebensmut. Damit wirkt es, wenn auch an zu wenigen Stellen, auch mutspendend. Schließlich schildert es eine besondere Frau, die ihren Schmerz offen zeigen konnte – indem sie über ihre gefallenen Brüder oft sprach, ihre Erinnerung wachhielt, zu Weihnachten im Kreise ihrer späteren Familie so manche Träne vergoss.

Über die Ambivalenz aus Verlust und Lebensfreude schreibt ihr Sohn Beckmann: „Ihr großer Vorteil: Sie hat über das sprechen können, was ihr widerfahren ist (…). Sie konnte schimpfen und sogar fluchen – insbesondere mit ihrem Herrgott, dem sie ihr Leben anvertraute. Dann brach es aus ihr heraus – dieser wütende, fragende Schmerz.“

Maria Köpf

Reinhold Beckmann: “Aenne und ihre Brüder. Die Geschichte meiner Mutter.” Propyläen Verlag 2023, 352 Seiten, 26 Euro.

 

 

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