Für eine Ethik in der medialen Welt
Heute kann jeder Botschaften in die Welt senden, der Einfluss etablierter Medien schwindet. Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen untersucht in seinem Buch Desinformation und Erregungsmuster des digitalen Zeitalters. Journalistisches Handwerk sollte Teil der Allgemeinbildung werden.
Am 20. Dezember 2013 fliegt Justine Sacco, eine erfolgreiche PR-Managerin aus New York in ihren Weihnachtsurlaub nach Südafrika. Vor dem Umsteigen in London twittert sie: „ich bin auf dem Weg nach Afrika. Hoffentlich kriege ich kein Aids. Ich mache nur Spaß. Ich bin weiß.“
Was sie für einen Witz hält, verbreitet sich in Windeseile. Noch bevor ihr Flugzeug landet, kommen 100.000 empörte Tweets zusammen. Am Flughafen in Südafrika wird sie von Demonstranten erwartet. Obwohl sie ihren Tweet sofort löscht, ist er längst kopiert und verbreitet sich weiter. Ihre PR-Agentur feuert sie, und weltweit wird sie zur Symbolfigur einer verwöhnten, arroganten, rassistischen weißen Frau.
Bernhard Pörksens 2018 erschienenes Buch Die große Gereiztheit enthält viele Geschichten wie diese. Sie illustrieren, wie sich im Zeitalter der Digitalisierung und Social Media eine Empörungsspirale herausgebildet hat, „in der miteinander verschlungene, sich wechselseitig befeuernde Impulse einen Zustand der Dauerirritation und der großen Gereiztheit erzeugen“.
Autoriäten werden demontiert
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen konstatiert fünf Krisen, die er einer näheren Betrachtung unterzieht: eine Wahrheitskrise, eine Diskurskrise, eine Autoritätskrise, eine Behaglichkeitskrise und eine Reputationskrise. Ihnen widmet er jeweils ein Kapitel.
Schon die ersten drei Krisenfelder machen deutlich, was auf dem Spiel steht. Erstens: Gewissheiten über den Wahrheitsgehalt von Nachrichten oder Bildern werden durch die technisch leicht zu realisierenden Möglichkeiten von Bild- oder Videofälschungen, von gekauften Trolls, Fake-Profilen und Social Bots immer fragwürdiger.
Zweitens: Die Grenzen des Sagbaren und Konsensfähigen verschieben sich in rasantem Tempo. Die Wut, das dauernde Funkenschlagen von Empörung und Erregung befeuern zunehmend auch die öffentlichen Diskurse.
Drittens: Die Autoritätskrise zeigt sich im Bereich des Politischen. Politikerinnen und Politiker werden grell ausgeleuchtet durch die „indiskreten Medien“ der Gegenwart schnell in ihrer Fehlbarkeit, Widersprüchlichkeit und Gewöhnlichkeit sichtbar. Ihre Rolle als vermeintliche Vorbilder schwinden.
Diese Krise wird aber auch im spirituellen und religiösen Umfeld offenkundig, wo die Zahl der „gefallenen Gurus“ in den letzten Jahren enorm zugenommen hat. Durch die neuen medialen Möglichkeiten werden Missbräuche im Feld von Sex, Macht und Geld aufgedeckt.
Als ich Bernhard Pörksen kürzlich zu diesem Thema interviewte (erschienen in BUDDHISMUS aktuell 1.19), sprach er vom unweigerlichen Ende des spirituellen Heldenzeitalters. Autorität und Selbstmystifikation erfordern Informationskontrolle und eine gewisse Distanz. Und beides ist heute immer weniger möglich.
„Vom Smartphone bis zum Pranger-Blog funktionieren die indiskreten Medien der Gegenwart als Instrumente der systematischen Enttäuschung und der Instant-Entlarvung. “
Utopie einer redaktionellen Gesellschaft
Bernhard Pörksen belässt es in seinem Buch aber nicht beim Aufzeigen dieser Entwicklungen und ihrer möglichen, für unser gesellschaftliches Zusammenleben durchaus gefährlichen, zersetzenden Folgen. Im sechsten und abschließenden Kapitel seines Buches entwickelt er als eine Gegenstrategie die Utopie einer redaktionellen und medienmündigen Gesellschaft.
Damit ist gemeint, dass guter Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung wird, etwa die Maximen: ‚Prüfe erst, publiziere später! Sei skeptisch, auch gegenüber deinen eigenen Urteilen! Analysiere die Quellen! Höre immer auch die andere Seite! Agiere transparent im Umgang mit eigenen Fehlern! Achte auf Relevanz und Proportionalität, mach also ein Ereignis nicht größer, als es ist!‘
Bernhard Pörksens Buch bietet eine kluge, spannend zu lesende Analyse über das „Zeitalter der indiskreten Medien“. Er erklärt, wie die neuen Entwicklungen unsere Wahrnehmungen, unsere Emotionalität, unsere Kommunikationsmöglichkeiten, unsere Sicht auf uns und die Welt verändert hat. Seine Bildungsutopie könnte uns mit den Fundamenten einer Handlungsfähigkeit und -mündigkeit versehen, die wir so dringend brauchen.
Ein inspirierendes Buch, sicherlich vor allem für Journalistinnen und andere Text- und Bildarbeiter relevant, für Lehrende und andere im Bildungsbereich Tätige. Da wir aber mittlerweile (fast) alle medienmächtig geworden sind, kann es uns Impulse geben, wie wir uns in ethisch verantwortlicher, unaufgeregter Weise in der medialen Welt bewegen.
Ursula Richard