Über das Philosophieren mit Kindern
Sich im eigenen Denken auszukennen und dabei sich selbst zu entdecken ist Anliegen der Philosophie – und das geht schon früh los. Ina Schmidt hat mit Kindern philosophiert. Die Philosophie sollten einen festen Platz in der Bildung bekommen, ist sie überzeugt.
Es ist ein sonniger Herbstmorgen. Auf dem Schulhof ist jede Menge los, auch in Coronazeiten mit Maske und Abstand herrscht reges Treiben. Grundschüler, die sich über den Rasen jagen, Grüppchen, die zusammenstehen oder einfach kurz das Gesicht in die Sonne halten, bevor es weitergeht.
Ich bin zu Besuch in einer Hamburger Grundschule, um mit einer 3. und 4. Klasse zu philosophieren. Darüber, welche Farbe die Angst hat oder warum es so schwer ist, zu wollen, was man soll. Auch wollen wir überlegen, ob alle Menschen Geheimnisse haben oder es wichtig ist, immer alles zu regeln.
Diese Fragen stellen sich auch „Phil und Sophie“ im gleichnamigen Buch [ Ina Schmidt. So viele Fragen an die Welt – Philosophie für Kinder, Verlag Carlsen 2020], die besten Freunde, die sich in kleinen Geschichten philosophische Fragen mitten im Alltag stellen, auf dem Weg zur Schule, auf dem Pausenhof oder am Nachmittag unter ihrem Lieblingsbaum – einer großen Birke. Gerade ist der zweite Band erschienen. Heute will ich meine kleinen Leser und Leserinnen einmal persönlich treffen.
Gedanken hin und her drehen
In der 3b steht mein Name schon an der Tafel, eingerahmt von Gedankenkonfetti, das ich den Kindern bereits im Vorwege per Post geschickt hatte. Die Gedanken sollen heute wie Konfetti durch die Luft fliegen, wir sitzen alle in einem Kreis zusammen und es gleich geht es los.
Woher kommen überhaupt die Ideen, die einem so durch den Kopf gehen, will Mohammad-Ali gern wissen. Und gibt es Orte, an denen man besonders gute Ideen hat? Felix findet sein Zimmer dafür ziemlich ideal. An so einem Ort ist es wichtig, dass es nicht so laut ist. Einige andere Kinder stimmen ihm zu, dass Lärm stört, wenn man auf die Suche nach seinen Ideen gehen möchte.
Aber wie genau macht man das dann? Marvin berichtet, dass die Klasse sich schon mal überlegt hat, was es mit diesem besonderen Denken so ganz in Ruhe auf sich hat und dass man seine Gedanken dann einfach mal hin und herdrehen kann. Ist das vielleicht schon so was wie philosophieren, fragt er. Was genau bedeutet es, zu philosophieren und was ist eigentlich der Unterschied zu dem, was man sonst mit seinen Gedanken so macht?
Sich im Denken selbst entdecken
Beim Philosophieren mit Kindern geht es nicht darum zu erklären, was Platon oder Nietzsche gesagt oder gedacht haben, sondern mit Hilfe alter philosophischer Grundgedanken ein Fenster in das eigene Denken zu öffnen. Was kann ich wissen? Wer will ich sein? Was ist der Mensch? Und wieso sind die Dinge wie sie sind und nicht ganz anders?
Jeder kennt diese Fragen und schon die Jüngsten lassen sich gern dabei begleiten, sich darin selbst zu entdecken. Auf dieser Reise durch die eigene Gedankenwelt lässt sich hin und wieder Überraschendes finden. Schon Aristoteles wusste, dass es das Staunen ist, was den eigentlichen Beginn der Philosophie ausmacht.
Auch die Kinder aus der 4a sind schon gespannt auf ihre kleine Gedankenreise. Auf die Frage, welche Geschichte von Phil und Sophie ihnen am besten gefallen hat, gehen gleich einige Finger hoch. „Welche Farbe hat die Angst“ finden Sean, Sed und Julian eindeutig am besten. Auch die Überlegung, ob alle Menschen Geheimnisse haben, ist ihnen wichtig.
Latoya widerspricht. Sie findet am interessantesten darüber nachzudenken, ob man auch wollen kann, was man soll. Schon daran erkennen wir gemeinsam, dass es nicht immer leicht ist, sich auf eine Antwort zu einigen, dass verschiedene Menschen verschiedene Dinge wichtig finden und wir uns trotzdem lernen müssen zu einigen.
Was aber bedeutet es, sich zu einigen? Brauchen wir dann eine gemeinsame Antwort und ist jeder Kompromiss immer eine gute Antwort? 2+2 ist immer 4, aber wenn es um Angst, Moral, Freiheit oder Freundschaft geht, dann gibt es viele mögliche Antworten.. Und doch können wir nicht immer einfach finden, was wir wollen, sondern müssen Gründe finden, warum wir etwas denken und etwas anderes nicht.
Kann es etwas geben, das alle Menschen gut finden?
Welche Gründe haben wir also, das eine gut und etwas anderes weniger gut zu finden? Die Kinder überlegen, ob es Dinge geben kann, die alle Menschen bei allen Unterschieden gut finden können. Eine wichtige Frage, die schon die griechischen Philosophen umgetrieben hat. Und die Kinder stellen übereinstimmend fest, auch das Gute ist nicht immer eindeutig. Und doch gibt es Dinge, die bleiben immer wichtig – egal wann und wo. Andere Menschen gut zu behandeln zum Beispiel, da nickt die ganze Runde.
Aus einem solchen Denken entsteht ein offener Raum des Möglichen, in dem etwas aufscheinen kann, das wir vorher noch nicht kannten, von dem wir uns überraschen lassen können – egal ob wir Kinder, Eltern oder Lehrer sind. In diesem Möglichkeitsraum entsteht ein anderes Verständnis von dem, was wir wissen können, wie wir die Welt verstehen und uns begreiflich machen können – und: welche Regeln wir dafür finden müssen, um uns einigen zu können.
Was bedeutet Bildung eigentlich?
Der Philosoph Karl Jaspers hat einmal gesagt, in der Philosophie gehe es um eine besondere Art der Erkenntnis, die eine andere ist als in der Naturwissenschaft: um eine Form der „Seinserkenntnis“ im Gegensatz zu einer Idee der „Sachkenntnis“.
Sachkenntnis bietet ebenfalls einen wichtigen Zugang zu den Dingen. Aber mit Fakten, Tatsachen, Zahlen und Lösungen zu arbeiten bedeutet etwas anderes, als sich tastend im eigenen Denken zu bewegen. Ein solcher Prozess des Deutens und Interpretierens, des Dialogs ist aber unerlässlich für „Bildung“.
Es ist ein Prozess, in dem sich etwas „bildet“, vielleicht „ausbildet“, in dem etwas zu etwas anderem wird, das aber offenbar schon angelegt ist – als Möglichkeit, nicht als einziges Ziel. Bildung meint also nicht allein das Erlernen von Fähigkeiten und Kompetenzen, sondern sie beschreibt ebenso die Entfaltung dessen, was uns als denkenden, fühlenden und wollenden Menschen erkennbar macht.
Der Gegenwartsphilosoph Peter Bieri beschreibt es so: „Wenn wir uns bilden, arbeiten wird daran, etwas zu werden. Wir streben danach, auf eine bestimmte Weise in der Welt zu sein.“
Es geht also in einem solchen umfassenden Bildungsverständnis vor allem darum, in Beziehungen denken zu lernen, die eigenen Fähigkeiten kritisch zu hinterfragen und das zur Verfügung stehende Wissen zu nutzen. Gleichzeitig aber auch das abwägende Denken zu schärfen, um Grenzen zu ziehen und Entscheidungen zu treffen, die wir begründen können. Diese philosophische Aufgabe beginnt schon mit den Jüngsten und findet oft genug kaum Platz in einem vollen Stundenplan.
Bildung in der Antike: Die Seele gedeihen lassen
Diesen Grundgedanken hat schon die antike Philosophie ausgeführt. Es gehe bei der Bildung – der „paideia“ – darum, dass die Menschen ihre Seele im besten Sinne „gedeihen“ lassen, so lesen wir es schon bei Platon. Nur dann könne aus jedem Menschen ein guter Bürger und verantwortungsbewusster Teil einer sozialen Gemeinschaft werden.
Jedem Bildungsprozess liegt demnach die ursprüngliche philosophische Frage zugrunde, wie wir ein „gutes Leben“ führen können, was den einzelnen Menschen im besten Sinne ausmacht, wie er zu dem werden kann, was er ist. Es geht nicht darum, leistungsfähig und wettbewerbsorientiert an der eigenen Vita zu arbeiten, sondern wahrhaft die „Wurzeln“ und „Flügel“ ausprägen zu können, von denen schon Goethe gesprochen hat.
Dafür braucht es ein gutes Fundament: Leitlinien, Überzeugungen, Vorbilder, die uns helfen, genau das zu finden. Die wir nachahmen, von denen wir uns aber auch abgrenzen können. Und damit sind wir wieder in den Klassenräumen der Grundschulen, in denen diese wichtigen Fragen gestellt werden wollen:
Was genau ist das Gute, an das wir alle glauben können? Und unter welcher Vielfalt von Möglichkeiten könnte es sich verstecken? Wie bilde ich mir eine Meinung? Wo finde ich all die guten Gedanken – in Abwesenheit all des Lärms der Welt da draußen, der die eigene Stimme übertönt. Genauso wie es sich Felix aus der 3b wünscht.
Dann ist Bildung mit dem Berliner Philosophen Peter Bieri „wie aufwachen“ aus einem Denken in Gewohnheiten und Tatsachen, die sich neu zusammensetzen lassen. Dafür müssen wir bereit sein, neue Räume für andere Fragen einzurichten und diese auch für unsere Kinder zu öffnen.
Dann ist es so, wie Piet am Ende meines Besuchs anmerkt, dass es vielleicht wirklich gut wäre, wenn es solche Gespräche zwischen Phil und Sophie nicht nur für Kinder geben würde, sondern auch für Erwachsene. Dann können alle gemeinsam über ihre Gedanken nachdenken.
Zu Weihnachten habe ich von der ganzen Klasse ein Paket bekommen, mit einem Notizbuch, in das die Kinder ihre eigenen wichtigsten Fragen notiert haben, als Anregung für weitere Geschichten. Wer weiß, was daraus in diesem neuen Jahr alles werden wird.
Dr. Ina Schmidt studierte Kulturwissenschaften und Philosophie. 2005 gründete sie die denkraeume, eine Initiative für philosophische Praxis. Buchautorin, Referentin der Modern Life School und des Netzwerks Ethik heute. Ina Schmidt lebt mit ihrem Mann und den gemeinsamen drei Kindern in Reinbek bei Hamburg.
Buchtipp: Ina Schmidt. So viele Fragen an die Welt – Philosophie für Kinder, Verlag Carlsen 2020