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Wie kann eine gute Schule aussehen?

Syda Productions/ shutterstock.com
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Interview mit dem Neurowissenschaftler Joachim Bauer

Immer mehr Lehrkräfte und Schüler scheitern an einem nicht mehr zeitgemäßen Schulsystem. Wer in Schülern die Lust am Lernen wecken will, der sollte gelingende Beziehungen mit ihnen gestalten, so der Neurowissenschaftler und Bestsellerautor Joachim Bauer. Zur flächendeckenden Einführung von Ganztagsschulen und zur Digitalisierung äußert er sich im Interview.

 

Frage: Ist das derzeitige Schulsystem in Deutschland überhaupt noch zeitgemäß? Meines Wissens nach stammt es noch aus dem alten autoritär orientierten Preußen.

Bauer: Gut, wir sollten dabei allerdings nicht vergessen, dass das Königreich Preußen eine der ersten Regierungen war, welche die Schulpflicht einführte, übrigens gegen den Widerstand vieler Eltern, die ihre Kinder als Arbeitskräfte zuhause behalten wollten.

Wie geht es Schülerinnen und Schülern in unseren heutigen Schulen aus Ihrer Sicht als Psychotherapeut?

Bauer: Unterschiedlich. Es hängt davon ab, ob und wie Kinder und Jugendliche von ihren Eltern unterstützt werden, in welche Schule sie gehen, wie die Klassengröße ist und ob es neben dem Unterricht interessante Zusatzangebote gibt -zum Beispiel einen Schulchor, eine Theater-AG oder interessante Sportangebote.

Hoher Bildschirmkonsum begünstigt ADHS

Bis in die 60-er Jahre überwog ein eher repressiver Erziehungsstil. Heute dagegen wird von Fachleuten die pädagogische Tendenz beklagt, dass den Kindern keine Grenzen mehr gesetzt werden. Führt das aus ihrer Sicht zu narzisstischen Störungen und ADHS?

Bauer: Das pädagogische Pendel ist heute in der Tat umgeschlagen. Pathologischer Narzissmus kann sich aber sowohl bei verwöhnten als auch bei repressiv erzogenen Kindern entwickeln. Entscheidend für diese Störung ist, dass Kinder früh den Auftrag mitgegeben bekommen, sie müssten etwas ganz Besonderes sein oder werden. Die Entwicklung eines ADHS wird begünstigt, wenn Kinder wenig direkten Umgang mit Bezugspersonen und stattdessen einen hohen Bildschirmkonsum haben. Bildschirmangebote trainieren das Gehirn, sich auf einen ständigen schnellen Wechsel der Szene einzustellen.

Viele Schülerinnen und Schüler können sich heute nicht mehr konzentrieren, nicht mehr zuhören. Liegt das am unkontrollierten Medienverhalten?

Bauer: Das kindliche Gehirn muss beides lernen: Einerseits soll es das „Go“ lernen, also auf Hinweise zu reagieren. Andererseits soll es auch das „No go“ lernen, also sich nicht von Reizen überfluten zu lassen, sondern erst einmal innezuhalten und zu prüfen: Was ist jetzt wichtig? Und was ist Unsinn? Im Internet lernen Kinder und Jugendliche ausschließlich das schnelle „Go“. Um im späteren Leben Erfolg zu haben, kommt es aber vor allem das Innehalten- und Nachdenken-Können an.

Achtsamkeitspraxis im Schulalltag integrieren

Könnten Achtsamkeitsübungen zur Selbststeuerung hier helfen?

Bauer: Ja, genau! Die Achtsamkeitspraxis stärkt die Fähigkeit des Menschen, in einer gegenwärtigen Situation zu innerer Ruhe zu kommen und angemessenere Entscheidungen zu treffen.

Wie könnten Achtsamkeitspraxis und Selbstwahrnehmung „salonfähig“ gemacht und im Schulalltag integriert werden?

Bauer: Es gibt speziell für Kinder und für Jugendliche entwickelte Achtsamkeitsprogramme. Vorreiter waren hier Lisa Flook und Daniel Rechtschaffen in den USA, Vera Kaltwasser in Deutschland. Von Rechtschaffen und Kaltwasser gibt es zu diesem Thema sehr brauchbare Bücher.

Digitalpakt: Für und Wider

Was sagen Sie zum geplanten Digitalpakt der Bundesregierung bzw. der Absicht, verstärkt digitale Medien im Unterricht zu nutzen?

Bauer: Die Ausstattung unserer Schulen mit digitalen Hilfsmitteln ist im Prinzip eine gute Sache. Entscheidend ist, ob Kinder und Jugendliche passive Konsumenten bleiben und an ihren digitalen Endgeräten verblöden, oder ob sie digitale Kompetenzen erwerben, also zum Beispiel eine Programmiersprache erlernen, oder lernen einen Computer zusammenzusetzen, digitale Medien kreativ einzusetzen, zum Beispiel selbst einen Film zu drehen.

Viele Lehrerinnen und Lehrer verzweifeln am aggressiven Verhalten ihrer Schüler. Mobbingattacken auf Mitschüler sind an der Tagesordnung. Wodurch lassen sich Schüler zu sozialem Verhalten motivieren?

Bauer: Wenn Kinder und Jugendliche erleben, dass wir uns ihnen zuwenden und wir sie mit Respekt behandeln, dann können wir mit ihnen auch darüber reden, dass sie sich selbst anderen gegenüber ebenfalls so verhalten müssen. Kinder und Jugendliche lassen sich mit diesem Thema aber nur dann erreichen, wenn Lehrkräfte und Eltern an einem Strang ziehen und nicht gegeneinander arbeiten.

Erkenntnisse der Neurowissenschaft für die Schule nutzbar machen

Welche neuen Erkenntnisse vermittelt die Neurowissenschaft über die Bedeutung der pädagogischen Beziehung?

Bauer: Kinder und Jugendliche haben ein „social brain“, sie sind ganz und gar auf zwischenmenschliche Ansprache ausgerichtet, wollen „gesehen“ und beachtet werden, was nicht mit Verwöhnung verwechselt werden darf. Zum „Sehen“ eines Kindes gehört nicht nur, dass wir empathisch sind, sondern auch die Probleme beim Namen nennen und mit dem Kind bzw. mit dem Jugendlichen darüber sprechen. Entscheidend ist, dass wir dies ohne Beschämung tun und das Kind nicht herabwürdigen oder lächerlich machen. Kinder, die sich „gesehen“ fühlen, entwickeln Motivation.

Sie sagen, dass die pädagogische Beziehung im Konfliktfall wichtiger sei als die Stoffvermittlung. Wie können Schüler aus Ihrer Sicht am besten lernen?

Bauer: Die Lehrkraft muss eine Balance zwischen der Pflege der Beziehungsebene und der Arbeit am Stoff finden. Vor allem zu Beginn einer jeden Stunde sollte ein „joining“, ein Miteinander-In-Kontakt-Kommen stehen. Wenn die Lehrkraft keinen guten Kontakt zur Klasse hat, dann macht es keinen Sinn, auf dem Stoff zu beharren.

Der Alltagsstress hat heute Lehrer, Eltern und Schüler im Griff. Oftmals sind beide Eltern berufstätig und der Schule kommt eine überfordernde Erziehungsaufgabe zu, für die sie nicht gewappnet ist. Wie könnte Schule heute dieser gesellschaftlichen Entwicklung gerecht werden?

Bauer: Die einzig vernünftige Lösung sind Ganztagsschulen, in denen sich Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte gerne aufhalten. Davon sind wir noch weit entfernt. Der Digitalpakt darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere Schulen sowohl hinsichtlich ihrer baulichen als auch hinsichtlich ihrer personellen Ausstattung − jedenfalls ganz überwiegend − krass unterversorgt sind.

Wäre also eine flächendeckende Ganztagsschule eine Lösung, in der soziales Leben und Wertevermittlung stattfindet, die das Elternhaus nicht mehr leisten kann?

Bauer: Ja.

Wie könnten Ihre Reformvorschläge umgesetzt werden?

Bauer: Indem wir alle mehr politischen Druck machen. Und indem Lehrkräfte von ihrem überholten Denken herunterkommen, dass es ausreicht, halbtags in der Schule zu sein. Der Berufs-Alltag einer professionell aufgestellten Lehrkraft sollte sich in der Schule abspielen. Hier sollte sie unterrichten, aber auch Räume haben, um den Unterricht vor- und nachzubereiten. Wenn sie abends nachhause kommt, sollte sie mit ihrer Arbeit fertig sein.

Univ.-Prof. Dr. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Arzt, Psychotherapeut und Autor viel beachteter Sachbücher (“Das Gedächtnis des Körpers”, “Warum ich fühle was du fühlst”, “Lob der Schule”, “Schmerzgrenze” und “Selbststeuerung”). Seit vielen Jahren leitet er Schulprojekte, um Erkenntnisse der modernen Neurowissenschaften für die Schule nutzbar zu machen. Prof. Bauer lebt, arbeitet und lehrt in Berlin.

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