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Wie wir wieder staunen lernen

Cover Kermani Jeder soll einen Schritt näher kommen

Der Islam, anders erklärt

Der Schriftsteller und Journalist Navid Kermani erklärt seiner Tochter den Islam und erforscht den Grund des Religiösen. Er tut dies als Kosmopolit und Brückenbauer zwischen den Kulturen. Ein berührender Text von universeller Kraft, in dem es um das zutiefst Menschliche geht: Hoffnung, Liebe, Sehnsucht, Sterben, Dankbarkeit und die Frage nach dem, was uns letztlich trägt.

Navid Kermani ist ein Brückenbauer. Wie kaum ein anderer setzt er sich in Deutschland für ein Verständnis der islamischen Kultur ein. Zugleich fühlt er sich zutiefst verwurzelt in der deutschen Kultur und Literatur. Als Schriftsteller hat er viele Romane und Essays geschrieben, in der er die Poesie und Tiefe der deutschen Sprache zum Ausdruck bringt.

Er ist zugleich ein engagierter Intellektueller, der sich auch zu politischen Themen wie der Flüchtlingskrise äußert. Kermani ist ein Brückenbauer in einem besonderen Sinn. Er fühlt sich der Aufklärung, dem wissenschaftlichen Denken und der demokratischen Kultur verpflichtet. Gleichzeitig schöpft er aus einer lebensnahen Spiritualität, besonders aus der Sufi-Mystik des Islam.

Seine Fähigkeit auf der Grundlage eines mystischen Verständnisses von Spiritualität den Dialog mit anderen Religionen zu suchen, zeigte er schon in seinem wunderbaren Buch „Ungläubiges Staunen“. Darin wandte er sich der Kunst des Christentums zu und lernte mit seinem durch den Islam geprägten Blick diese andere Religion schätzen und lieben.

In seinem neuen Buch folgt Kermani dieser Spur des Staunens. Es ist ein persönlicher Text, weil er sich an seine 12-jährige Tochter richtet bzw. im Gespräch mit ihr entstanden ist.

Kermani dringt zum Kern des Lebens vor

Begonnen hat alles mit Kermanis Vater, der ihn bat, seiner Enkelin den Islam nahezubringen. Dieser Bitte folgend las Kermani seiner Tochter viele Bücher vor, aber keines war so, wie es sich ihr Opa gewünscht hatte.

Also entschloss sich Kermani, es selbst zu schreiben. Tagsüber schrieb er seine Gedanken auf, und am Abend las er sie seiner Tochter vor, die darauf antwortete, oft mit weiteren Fragen, denen der Autor am nächsten Tag nachging.

Das Buch ist ein Dialog, und die liebevolle Zuwendung zu seiner Tochter erfüllt den Text mit einem eigenen Leuchten. Und auch als Leser fühlt man sich direkt angesprochen und mitgenommen in diese Suche nach dem, was unser menschliches Leben in der Tiefe bedeutet.

Dieser persönliche Ton ist ein Glücksfall, denn Kermani versucht nicht, eine Religion wie den Islam zu verteidigen oder sogar die Religion als solche. Er will auch nicht in einem säkularen oder gar atheistischen Umfeld dafür argumentieren, dass Gott möglicherweise doch existiert.

Kermani dringt zum Kern des Lebens vor und dabei auch zum Wesen der religiösen. Die Religionen, so erklärt er seiner Tochter, sind wie Kleider, aber was ist denn der Körper, das lebendige Wesen, um dass es dabei geht?

Kermanis Antwort darauf ist ein ständiges Fragen, das von den Urerfahrungen des Menschseins ausgeht. Bei Geburt und Tod, Liebe und Verlust, bei der Erfahrung der Schönheit der Natur, der Vielfalt des Lebens, dem Staunen vor der Unendlichkeit des Universums, dem Zauber der Poesie.

Die Stimme der Mystiker hörbar machen

Dabei wendet sich Kermani auch der Wissenschaft zu, folgt der Qunatenphysik bis an die Grenzen der Materie und darüber hinaus. Er erforscht die Ausdrucksmittel der Religion in der Kraft der Bilder oder zeigt, dass der große deutsche Dichter Goethe wie kaum ein anderer die islamische Poesie von innen her verstand.

Durch solche Bezüge zeigt er auf, von welchem existenziellen Erleben verschiedene Religionen und Kulturen durchdrungen sind. Dazu lässt er im Text immer wieder Suren des Korans zu Wort kommen und legt so das, was darin angesprochen wird, jenseits religiöser Dogmen frei.

Und immer wieder bezieht sich Kermani auf die Stimme der Mystiker, vor allem den Sufi-Dichtern des Islam, diesen „Menschen, die Gott in sich selbst suchten“. In der Mystik entdeckt Kermani den Körper der Religionen, den „inneren Aspekt des Glaubens“, der vielleicht noch nicht einmal den Glauben braucht, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne.

Zum Ende des Buches erzählt Kermani die bewegende Geschichte der Geburt seiner Tochter, eine Frühgeburt, deren Ausgang ungewiss war. Der Vater fieberte mit, hoffte – und betete. Zu Gott?

„Wenn ich mich richtig erinnere, betete ich nicht, weil ich glaubte, sondern es war umgekehrt: Ich glaubte an Gott, weil ich mich im Gebet instinktiv an etwas wandte, was Leben schafft und wieder nimmt.“

Kermani legt diese Urbeziehung offen, in der wir uns immer schon an etwas wenden, wenn wir ins Leben treten, im Leben sind und wieder aus diesem Leben gehen. „Nenn es wie du willst, nenn es Allmacht oder Unendlichkeit, das schöpferische Prinzip, den Urgrund allen Seins, die Weltseele oder den Heiligen Geist, die Liebe, das Nichts oder den Atem der Barmherzigkeit.“

Vielleicht ist es auch Gott. Vielleicht gibt es in diesem Universum doch eine Kraft, die uns ins Leben gebiert, uns wieder in sich hineinnimmt und uns in Leiden und Verlusten, in Glück und Seligkeit trägt.

Vielleicht berühren wir hier die Quelle, aus der die Religionen entstanden sind. Sie weisen Wege dorthin. Aber man muss nicht religiös sein, um aus dieser Quelle zu schöpfen, zu trinken.

„Vielleicht“ ist Kermanis Lieblingswort im Koran: „Das ganze Drama liegt in diesem ‚vielleicht‘, dass die Schöpfung seit der ersten Zellteilung ist. Du hättest geboren werden können. Niemand hätte geboren werden müssen. Opa wünschte sich für seinen Grabstein ein einziges Wort: Schokr – Dank.“

Danke, Navid Kermani, für dieses Buch, das uns mitnimmt auf den Weg zu uns selbst und dem Geheimnis unseres Seins in dieser wunderschönen, verletzlichen Welt.

Mike Kauschke

Navid Kermani, „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen – Fragen nach Gott“, Hanser 2022.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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Danke, Mike Kauschke! Ja, dieses Buch ist ein Glücksfall wie Navid Kermani selbst auch. Welch ein Geschenk, wenn jemand in Zeiten wie diesen Quellen freizulegen vermag; Quellen zu dem, was uns trägt, Halt gibt und verbindet – miteinander und mit dem Großen Ganzen des Lebens!
Und umso schöner, dies so leicht lesbar und verständlich aus islamischer Sicht zu erfahren. Islam – wie Kermani ausführt – bedeutet: sich hingeben und Frieden schließen. Beziehung statt Trennung.
Frieden, endlich Frieden. Zwischen Volk und Volk, Mensch und Mensch, Himmel und Erde, Natur und Mensch, und in uns selbst.

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