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Willkommenskultur für syrische Flüchtlinge

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Syrische Flüchtlinge bei der Ankunft in der Gemeinschaftsunterkunft in Regensburg |
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Interview mit der Filmemacherin Jutta Neupert

Rund 12 Milllionen Syrer sind seit Ausbruch des Bürgerkriegs auf der Flucht. In ihrem Dokumentarfilm vom Sommer 2014 hat die Filmemacherin Jutta Neupert auf die dramatische Situation syrischer Flüchtlingsfamilien in Deutschland hingewiesen.

Das Interview führte Michaela Doepke

Frage: Wie beurteilen Sie die Situation der Flüchtlinge in Deutschland im September 2014? Was ist im Moment das größte Problem?

Antwort: Die schleppende Bearbeitung der Asylverfahren ist das größte Problem. Auch Sorgen machen mir rechte Gruppen, die Flüchtlingen unterstellen, sie würden uns “alles wegnehmen”, den Sozialstaat belasten usw. Im Verlauf der Filmaufnahmen habe ich aber gemerkt, dass es auch eine Bewegung von unten gibt: Das sind Menschen, die Herzensbildung besitzen und sich aus den unterschiedlichsten Gründen für Flüchtlinge engagieren. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Politik.
Wir müssen den Flüchtlingen einen Halt geben, damit sie wissen, woran sie sind und nicht ewig auf ihren Status warten müssen. Oftmals wissen sie nicht, wie lange sie in Deutschland bleiben dürfen oder ob sie wieder in das Ankunftsland abgeschoben werden, in dem sie Europa betreten haben. Es gibt also noch viel zu tun.

Frage: Was war für Sie die Motivation, einen Film über Flüchtlinge in Deutschland zu drehen?

Antwort: Als Historikerin habe ich über 20 Jahre zum Thema Nationalsozialismus gearbeitet, mich mit der Geschichte der Opfer sehr intensiv beschäftigt und viele Interviews geführt. Das politische Lernen daraus ist für mich sehr wichtig. Aber die aktuellen sozialen Themen über Migration und Flüchtlinge in Deutschland erinnern mich daran, wie es den Deutschen vor über 70 Jahren ergangen ist, wenn sie ins Ausland emigrieren mussten, weil sie Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten oder einfach Hitler-Gegner waren.
Für mich als Historikerin und Filmemacherin ist es interessant zu sehen, wie Vorurteile funktionieren und gezielt als Form von Propaganda eingesetzt werden, die zum Beispiel von einer deutschen Zeitung mit vier großen Buchstaben hinreißend beherrscht wird. Damit werden schnell neue Feindbilder geschaffen.

Frage: In Ihrem Film zeigen Sie Flüchtlingsfamilien, in denen die Eltern oft Ärzte oder andere Akademiker sind, die jetzt vom Krieg traumatisiert auf engstem Raum in ihren Unterkünften mit Fremden zusammenleben, keine Privatsphäre mehr besitzen und zum Teil nicht arbeiten dürfen oder können.

Antwort: Ja, und außerdem leben die syrischen Flüchtlinge bei uns in einer Zweiklassengesellschaft. So gibt es bei uns zunächst die Kontingent-Flüchtlinge. Das bedeutet, die Bundesrepublik erklärt sich bereit, aufgrund humanitärer Maßnahmen ein bestimmtes Kontingent von Flüchtlingen aufzunehmen. Die Syrer, die ich begleitet habe, wurden noch vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen ausgewählt, dem UNHCR. Sie sind von der Bundesrepublik eingeladen worden, hier während der Kriegszeit zu leben und zu überleben. Und die anderen Syrer kommen auf eigene Faust. Sie bezahlen Schlepper, die sie außer Landes bringen. Das sind dann die so genannten Asylbewerberinnen und Asylbewerber.

Andrang der Kontingentflüchtlinge vor der Unterkunft in Regensburg, Bild: BR

Frage: Die Kontingent-Flüchtlinge haben also einen Anspruch auf Sicherheit, Schule und Arbeit?

Antwort: Ja, sie dürfen sofort arbeiten. Ihnen stehen Deutsch-Integrationskurse zu, die jetzt allmählich auch schon Asylbewerber in manchen Gemeinden bekommen; und sie dürfen sich auch sofort eine Wohnung suchen. Das klingt alles sehr positiv. Aber wenn man nur Arabisch spricht, nie aus Syrien weg wollte und plötzlich in einem vollkommen fremden Land, einer total anderen Kultur ein neues Leben anfangen soll, ist das schwierig.

Frage: In so einer Situation entstehen zwangsläufig Ängste und Aggressionen. Haben die Flüchtlinge irgendeine karitative Unterstützung oder Institution, an die sie sich mit ihren Problemen wenden können?

Antwort: Das ist ganz unterschiedlich. Wenn ein Asylbewerber nach Deutschland kommt, muss er zunächst in eine Erstaufnahmeunterkunft. In der Münchner Bayernkaserne kümmert sich zum Beispiel die Innere Mission um die sozialen Belange der Ankommenden. Es handelt sich um eine Einrichtung der evangelischen Kirche, und die Kollegen, die ich dort getroffen habe, machen das ganz prima. Ansonsten sind die Asylbewerber den deutschen Verwaltungen unterstellt, und hier kommt es darauf an, wie der jeweilige Sachbearbeiter sich für die Betroffenen einsetzt. Eine direkte Anlaufstelle einer karitativen Einrichtung in Deutschland existiert tatsächlich nicht. Aber es gibt immer mehr Privatleute und Vereine, die sich um Flüchtlinge kümmern.

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Ankunft in der Unterkunft Regensburg, Bild: BR

Frage: Gibt es auch eine psychologische Betreuung für traumatisierte Flüchtlingskinder?

Antwort: Psychologische Betreuung steht den Flüchtlingskindern nicht zu. Es gibt eine Betreuung auf freiwilliger Basis, wie zum Beispiel durch den Verein Refugio in München, der ausschließlich durch Spenden finanziert wird. Am ärmsten sind wirklich die Kinder – und das ist eigentlich absurd –, die mit ihren Eltern kommen. Denen steht gar nichts zu. Die syrischen Eltern Darin und Mouaz, die ich in meinem Film porträtiere, sind stark traumatisiert. Sie haben unglaubliche Schreckenserlebnisse hinter sich, zwei kranke Söhne und einen gesunden. Auf dessen Schultern lastet so viel. Er kümmert sich um die kranken Brüder, wenn die Eltern zur Behörde müssen. Diesen Wahnsinn bei denen zu Hause, die autistischen Kinder, deren Betreuung sehr kompliziert ist, die laut sind, schreien, ständig Aufmerksamkeit suchen und brauchen, das kriegt der kleine Kerl alles mit. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge können hingegen Glück haben und in eine Betreuung durch die Jugendfürsorge hineinrutschen.

Frage: Wie können wir die Flüchtlinge konkret im Alltag unterstützen und eine Willkommenskultur in Deutschland kultivieren?

Antwort: So wie es auch im Film gezeigt wurde mit den sehr beachtenswerten Bürgern von Wunsiedel. Auch in diesem Ort gibt es Stammtische und Ewiggestrige, die harte Stammtischparolen klopfen. Aber es gibt auch viele Menschen, die sich für die Flüchtlinge engagieren. Es liegt bei jedem Einzelnen von uns, alle Ängste zu überwinden und eine Asylbewerberunterkunft aufzusuchen. Ich kenne das aus eigener Erfahrung von der Unterkunft in Dachau. Dort wird man unglaublich freundlich empfangen.
Und natürlich freuen sich die Menschen dort, die in der Warteschleife leben, wenn sich jemand um sie kümmert. Man kann zum Beispiel bei den Hausaufgaben helfen, man kann die Leute zum Essen einladen oder zum Einkaufen fahren. Und wenn man weiß, dass jemand abgeschoben werden soll, kann man sich um anwaltliche Hilfe kümmern oder im Notfall ein Kirchenasyl organisieren. Ich denke, die Bandbreite der Unterstützungsmöglichkeiten ist groß. Und wer vor dem Kontakt mit Fremden ein bisschen Angst hat, der könnte zumindest etwas spenden.

Frage: 23 000 Menschen sind Schätzungen von Amnesty International zufolge seit dem Jahr 2000 auf der Flucht nach Europa ums Leben gekommen. Die Fernsehbilder von den Flüchtlingen in Lampedusa haben sogar den Papst aufgeschreckt. Warum gibt es nicht mehr Empörung?

Antwort: Ich glaube, das Problem ist sehr vielschichtig. Ich habe in diesem Gespräch bislang alles auf die Politik geschoben. Aber die Politik sind ja letztendlich wir Wähler. Wir leben in einer Demokratie. Wir bestimmen, wer in der Regierung sitzt. Also sollten wir uns Gedanken darüber machen, wen wir wählen. Wir sollten aufpassen, dass nicht Politiker an die Macht kommen, die gerne Stammtischparolen dreschen und einfache Lösungen propagieren. Das ist das Erste.
Das Zweite: Wir alle wissen, dass unser Wohlstand nur geliehen ist. Uns geht es gut, den Menschen in der Dritten Welt geht es schlecht, und das hängt zusammen. Wir nutzen ihre Ressourcen aus, wir schauen freudig zu, wie ihre Umwelt vor die Hunde geht, weil wir dort billig produzieren. Deswegen sollten wir uns einfach fragen: Wie können wir unseren Konsum sowie unser zwischenmenschliches und gesellschaftspolitisches Verhalten verändern? Das ist zwar nicht sehr viel, aber das ist das, was wir tun können.
Das Interview mit Jutta Neupert führte Michaela Doepke.

Jutta Neupert, Historikerin und Filmemacherin, geb. 1960 in Arzberg/ Oberfranken ist seit 1986 als freie Journalistin überwiegend für den Bayerischen Rundfunk, Arte und die ARD tätig.

Dokumentarfilm „Familien auf der Flucht. Aus Syrien nach Deutschland“

Der Dokumentarfilm „Familien auf der Flucht. Aus Syrien nach Deutschland“ von Jutta Neupert (Buch und Regie) wurde am 4. Juni 2014 im Bayerischen Fernsehen gesendet. Jutta Neupert begleitet syrische Familien, die ihr Leben völlig neu gestalten müssen. Sie zeigt die Familien nach ihrer Ankunft, ihre Ratlosigkeit und ihre Versuche, in Deutschland zurechtzukommen. Sie spricht mit ihnen über ihre Flucht, ihre Hoffnungen, ihre Zukunftspläne. Nach drei Monaten trifft die Autorin sie wieder und fragt nach, was in der Zwischenzeit geschehen ist.

Link zum Film:
http://mediathek.daserste.de/tv/Gott-und-die-Welt/Familien-auf-der-Flucht-Aus-Syrien-nac/Das-Erste/Video?documentId=20486454&topRessort=tv&bcastId=2833732
Alle Fotos aus dem Film von Jutta Neupert “Flüchtlinge in Deutschland”: Bildarchiv Bayerischer Rundfunk
Veröffentlichung des Links und der Fotos aus dem Film von Jutta Neupert mit freundlicher Genehmigung der Pressestelle des Bayerischen Rundfunks.

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