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„Wir denken nur noch in Geld“

David-W/ photocase.de
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Interview mit Silja Graupe

Geld ist in unserer Gesellschaft die einzige Eintrittskarte ins Spiel. Wer es nicht hat, bleibt außen vor. Volkwirtin Silja Graupe kritisiert die Ökonomisierung des Lebens. Sie spricht im Interview über Geldzwänge und Abhängigkeiten. Nur der Gemeinsinn kann uns in eine erfahrungsbezogene Welt zurückbringen und zu kreativer Transformation beitragen.

Das Gespräch führte Mike Kauschke

Frage: Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass das Geld uns denkt? Was macht das Geld mit uns, mit unseren Beziehungen?

Graupe: Das Geld ermöglicht uns, von allen konkreten Umständen des Lebens abzusehen. Wenn Sie im Supermarkt stehen, vorausgesetzt, Sie haben Geld in der Tasche, dann können Sie aus allen Lebensbereichen und aus allen Gegenden des Planeten Dinge gegeneinander abwägen. Diese haben von der Erfahrung her – sowohl ihren Produktions- als auch ihren Gebrauchsweisen – nichts miteinander zu tun.

Auf politischer Ebene zwingt uns das Denken in Geld dazu, die Rettung menschlichen Lebens gegen Waffen, die Rettung von Wäldern oder den Klimaschutz abzuwägen. Im Geld können und müssen wir alles miteinander vergleichen, aber der Maßstab, das Geld selbst ist dabei nichts Konkretes. Es funktioniert vielmehr wie eine gewaltige Maschine, die alles aus dem Kontext herauslöst.

Das führt einerseits zu einer Freiheit von Bindung und Beziehung. Ich muss mich z. B. nicht mehr selbst ernähren und brauche dafür auch keine spezifischen anderen Menschen wie meine Familie, meine Religionsgemeinschaft etc.

Gleichzeitig werde ich abhängig von unzählbaren anonymen Bindungen und Beziehungen, die ich nicht verstehe. Ich werde von unbekannten Anderen abhängig – und zwar in einer so großen und unüberschaubaren Anzahl, dass es mich von ihnen entfremdet.

Was ist daran das Problem?

Graupe: Wir leben in einer Welt, in der wir alles dem Maßstab Geld unterwerfen, ohne es zu wissen. Es ist eine Form der Unfreiheit, diesem anonymen Preis-Mechanismus unterworfen zu sein. Geld entbindet uns davon, Werte erfahrungsbezogen zu erklären.

Foto: Bonn

Nehmen wir als Beispiel die Bildung, die in Begriffen des Wachstums und Bruttosozialprodukts eingebunden ist. In der Folge werden die Schwerpunkte in der Bildung nach Maß und Zahl ausgedrückt. Mit Statistiken versuchen wir dann etwas zu quantifizieren, wobei das Maß Geld selbst inhaltsleer ist.

Wir unterwerfen damit die Bildung einem abstrakten Maß. Wir haben Pisa-Punkte, die wir steigern wollen, wissen aber gar nicht, was deren Inhalt ist. Wir nutzen also Geld als Maßstab, ohne zu klären, ob dies sinnvoll ist. Wenn man darauf hinweist, dass man Bildung auch als ein lebendiges Bezugssystem in der Welt auffassen kann, wird das häufig als unwissenschaftlich deklariert.

Ein anderes Beispiel ist das Gesundheitssystem. In der Geldlogik können wir Krankenhäuser nach reiner Funktionslogik und nach Zahlen steuern. Es gibt dort Manager, die nicht wissen, was Medizin und Pflege bedeuten. Es gibt eine „Managerialismus“, der vermeint, alles nach Zahlen steuern zu können, ohne Bezug zur Erfahrungsgrundlage zu nehmen. Die von den Managern installierten Steuerungsinstrumente greifen in den Krankenhausalltag ein. Jeder Handgriff muss dokumentiert und quantifiziert werden.

Das Geld wird zur alleinigen Kommunikation, zur einzigen Eintrittskarte ins Spiel.

Ein Problem ist ja auch, dass unsere Gesellschaft durch eine ungleiche Verteilung von Geld zwischen arm und reich gekennzeichnet ist.

Graupe: Ja, wir denken nur noch in Geld, aber wir denken nicht mehr über das Geld nach. Zudem folgen wir einem Neoliberalismus, in dem wir Preise als die einzigen Kommunikationssignale akzeptieren. Wir sprechen aber nicht mehr darüber, wie Preise zustande kommen.

Dadurch verschwinden die Fragen von Macht und Gerechtigkeit und werden unsichtbar. Das Geld wird zur alleinigen Kommunikation, zur einzigen Eintrittskarte ins Spiel. Wer damit nicht kommunizieren kann, weil er diese Eintrittskarte nicht besitzt, wird systematisch außen vor gelassen.

Das gilt für arme Menschen, aber auch für die Natur und unsere Enkelkinder – alle, die keine Stimme haben bzw. sich nicht in der Sprache Geld artikulieren können. Das betrifft Kulturbereiche wie die Kunst oder ganze Kulturen, die sich nicht nach dieser Logik ausdrücken können und kein Gehör finden.

Deshalb sehe ich uns in einer tiefen Kulturkrise, weil wir von etwas beherrscht werden, und nicht mehr wissen, dass wir es selber geschaffen haben. Die Ökonomie wird dann zur Wissenschaft nach Maß und Zahl, schärft aber nicht mehr das Bewusstsein darüber, wie wir überhaupt in diese Situation gekommen sind.

Sie sprechen von einer Gemeinsinn-Ökonomie. Ist das ein Aspekt einer neuen Gestaltung wirtschaftlicher Prozesse und des Geldes?

Graupe: Oft wird Gemeinsinn als moralische Kategorie gebraucht. Aber mir geht es zunächst noch um etwas anderes, tiefer Liegendes: In unserer medialen und durch Geld bestimmten Gesellschaft haben wir kaum mehr die Möglichkeit, die Welt direkt wahrzunehmen.

Ich stehe im Supermarkt und dort gibt es Tee und Pfeffer und Bananen, aber ich weiß nichts darüber, wie sie produziert werden. Direkt kann ich nichts wissen, sondern es wird mir etwas über Bilder vermittelt.

Ich nehme eine Kakaopackung, da ist der Kakaobauer drauf, und ich denke vielleicht, dass es ihm durch meinen Kauf besser geht. Das ist aber eine medial vermittelte stereotype Wahrnehmung, die nichts mit der direkten Erfahrung zu tun hat.

Der Gemeinsinn führt uns in eine reale erfahrungsbezogene Welt zurück.

Gemeinsinn ist die Fähigkeit, mit den Sinnen die Welt in ihrer Dynamik wahrnehmen zu können und aus der direkten Erfahrung zu schließen, was zu tun ist.

Nehmen wir zum Beispiel die Pflegenden in den Krankenhäusern, die in der Corona-Pandemie besonders gefordert sind. Gemeinsinn ist hier die Fähigkeit aus der unmittelbaren Erfahrung heraus spontan zu wissen, was für den jeweiligen Menschen jetzt das Richtige ist, z. B. wie er oder sie gelagert werden sollte, dass man ihnen Nähe schenkt, dass sie Mobiltelefone brauchen, um mit ihrer Familie in Kontakt zu sein.

Dieser Gemeinsinn führt uns in eine reale erfahrungsbezogene Welt zurück. Der Gemeinsinn arbeitet viel tiefer als die Geldlogik, die nur auf vergangenen Stereotypen beruht.

Gemeinsinn bringt uns in Kontakt mit dem gesellschaftlichen Magma: der Offenheit und Kreativität für alles, was möglich, aber noch nicht realisiert ist. Damit speist er unsere Imagination und Vorstellungskraft für das, was möglich ist. Daraus können wir dann wiederum eine praktische Urteilskraft dahingehend entwickeln, was das richtige Tun ist.

Auf diese Weise ist eine dynamisierte Wahrnehmung von menschlichem Leben möglich, die dringend notwendig ist, um den geldvermittelten medialen Welten etwas entgegenzusetzen.

Hier öffnet sich auch der Blick auf das, was die Gemeinschaft braucht. Dazu gehört auch die Gemeinschaft mit der Natur. So entsteht eine gemeinschaftliche Suchbewegung, in der wir immer wieder neu hinschauen und andere nicht vorverurteilen.

Unter der verkrusteten Oberfläche liegt eine kreative Energie mit unfassbaren Möglichkeiten.

Sie sprechen hier ein Erkenntnismodell an, welches Sie entwickelt haben, und das auch Imagination und andere Erkenntniskräfte mit einbezieht. Können Sie dieses Modell noch etwas erläutern?

Graupe: Das rationale Menschenbild, welches das Berechenbare in den Mittelpunkt stellt, setzt einen „Geldmenschen“ voraus. In diesem Menschenbild ist aber kein Platz für die Möglichkeit, sich selbst aus der Dynamik des Lebens neu zu schöpfen. Deshalb ist es mir wichtig, diese dynamische Schöpfungsfähigkeit im Menschen zu eröffnen.

In Erweiterung des Bildes vom berechenbaren Menschen wurde im Eisbergmodell das Unbewusste mit einbezogen mit den Impulsen, die wir nicht vollends steuern können.

In Anlehnung an die geologische Beschaffenheit unseres blauen Planeten sage ich, dass es unter der verkrusteten Oberfläche im Kern des individuellen Menschen und der Gesellschaft eine kreative Energie gibt mit einer unfassbaren Vielfalt an Möglichkeiten.

Daraus kristallisieren sich dann allmählich Gewohnheiten heraus. Diese Gewohnheiten können aber verhärten und die eigentliche Dynamik des Lebens verhindern.

Diese schöpferische Energie wird gesellschaftlich nicht berücksichtigt. Auch wird nichts dafür getan, dass sie sich herausbilden kann. Wir denken vor allem in der Ökonomik, dass wir Menschen über Reize steuern können. Aber die Idee, dass der Menschen sich selbst gestalten kann, Gewohnheiten umformen und die Gesellschaft verändern kann, kommt gar nicht vor.

In der Geologie des Erkennens wie ich sie beschreibe, können wir diese Dynamik wieder imaginieren und sprachlich fassen. Das scheint mir zentral in der Bildung, in Unternehmen und in politischen Prozessen zu sein. Diese Arbeit mit der Imagination wird derzeit stark angefragt. Unternehmer sagen, wir können ja noch nicht einmal mehr träumen. Wir können uns gar nicht mehr vorstellen, wo wir hinwollen.

Es ist wichtig, das eigene Leben so zu gestalten, dass das Geld nicht meine Entscheidungen dominiert.

Wie kann diese Arbeit konkret das Leben des Menschen verändern?

Graupe: Wir arbeiten viel mit Studierenden. Hier gibt es eine Offenheit für den Wandel. Der wird nicht als Problem gesehen, sondern als Möglichkeit.

Mit meinen Studierenden mache ich oft die Imaginationsübung, in der ich sie frage, was die Welt sein könnte, wenn sie nicht der leistungsgetriebene Hürdenlauf wäre, sondern eher so, als ob man eine Welle surft.

Also die Energie einer instabilen, sich wandelnden Welt aufzunehmen, darauf zu reiten und nach Möglichkeiten Ausschau zu halten. Dazu gehört auch die Erkenntnis, wo ich selbst an Gewohnheiten festhalte, die eigentlich überholt sind.

Die gegenwärtige Corona-Pandemie gibt uns auch die Möglichkeit zu imaginieren, wie wir in und nach dieser Zeit unser Leben verändern wollen und z. B. auch Prozesse in Unternehmen neu gestalten wollen.

Und wie kann diese Geologie des Erkennens unseren Umgang mit Geld verändern?

Graupe: Im Eisbergmodell des Menschen gibt es eine Oberfläche, die von unserer Rechenfähigkeit bestimmt wird. Darunter gibt es das Unbewusste und die Gefühle. Das ist der Mensch, der in Geld denkt, weil er nicht mehr weiß, woher das Geld kommt und welche Erfahrungen und Reichtum darunter war. Er sieht nur noch die Preise und darauf reagiert er.

Rechnen und Geldlogik liegen auf der Oberfläche des Geistes, Grafik: Silja Graupe

Unsere ganze Finanzwirtschaft existiert auf dieser Oberfläche menschlichen Erkennens. Wie die Erdkruste ist es eine starre Oberfläche, die wieder und wieder durch Eruptionen wie eine Finanzkrise erschüttert wird. Und dennoch tun wir weiter so, als ob wir einen sicheren Boden unter uns hätten.

Auf individueller Ebene ist es wichtig, sich nicht vom Geld treiben zu lassen, sondern so gut wie möglich einen Entscheidungsspielraum zu erhalten, der nicht vom Geld bestimmt ist.

Zwei Arten von Menschen sind gut beherrschbar: Solche, die arm sind und um ihr Überleben kämpfen müssen, und solche, die gierig und geizig sind und immer mehr haben wollen. Deshalb ist es wichtig, das eigene Leben so zu gestalten, dass das Geld nicht meine eigenen Entscheidungen dominiert.

Mit meinem Mann habe ich mir beispielsweise durch Zurücknahme von Bedürfnissen die Situation geschaffen, genug Geld zu haben, aber nicht vom Geld bestimmt zu sein. Für mich ist es zudem eine wichtige Frage, welche Beziehungsformen ich über Geld gestalte und wo ich andere Formen wähle.

Aufgabe der Gesellschaft ist es dann, der Gier Grenzen zu setzen und die Armen in den Stand zu versetzen, dass sie ein ausreichendes Auskommen haben.

In meiner Arbeit als Professorin und Hochschulgründerin konzentriere ich auf einen Bewusstseinswandel, der uns unsere Gestaltungsfähigkeit wieder zugänglich macht. Hier liegt ein gewaltiges schöpferisches Potenzial, das in unserer Gesellschaft gerade brach liegt und uns auch in der Geldlogik gefangen hält.

Silja Graupe ist Professorin für Ökonomie und Philosophie an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, deren Mitgründerin und Vizepräsidentin sie ist. Sie ist Diplom Wirtschaftsingenieurin und promovierte Volkswirtin.

Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Kritik der Ökonomisierung, der Neubegründung der ökonomischen Bildung. Auch leitet sie die trans- und interdisziplinären Masterstudiengänge der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung die neues ökonomisches Denken und Handeln mit Gesellschafts-, Institutions- und Zukunftsgestaltung verbinden.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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