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„Wir denken zuerst reflexartig an uns selbst”

Minerva Studio/ shutterstock.com
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Ein Gespräch mit dem Philosophen Jay Garfield

Zu ethischem Verhalten gehört, die Welt weniger selbstzentriert wahrzunehmen, sagt Jay Garfield. Im Interview mit Birgit Stratmann spricht er über die Vielfalt ethischer Ansätze, menschliche Dilemmata und warum der Konsum eines der größten ethischen Probleme ist.

Das Interview führte Birgit Stratmann

Frage: Wie würden Sie den Begriff Ethik definieren? Was meinen wir eigentlich, wenn wir über Ethik sprechen?

Garfield: Der Begriff „Ethik“ bedeutet ursprünglich „Gewohnheiten, Bräuche“, was dem lateinischen Wort „Moral“ (moribus) entspricht. Es geht darum, wie wir uns verhalten, Dinge betrachten, wie wir interagieren sowie über unsere Vorstellung davon, wie uns das am besten gelingt.

Macht man im Amerikanischen keinen Unterschied zwischen Ethik und Moral?

Garfield: Nein, der Unterschied ist, dass das Wort „Ethik“ sich auf das griechische und „Moral“ auf das lateinische Wort bezieht. Einen kleinen Unterschied treffen wir im Amerikanischen nur, wenn wir von Verhaltenskodizes in der Arbeitswelt sprechen, etwa im medizinischen oder unternehmerischen Bereich; hier benutzt niemand das Wort “Moral”. Aber das ist eigentlich Haarspalterei.

Und natürlich sprechen wir manchmal etwas abfällig von den „Moralisten” und meinen damit Menschen, die ständig predigen und mit erhobenem Zeigefinger herumlaufen. Hier handelt es sich aber um kleine Abweichungen in den Bedeutungen.

Was wären aus Ihrer Sicht moralische Handlungen?

Garfield: Das ist schwierig, es gibt aus meiner Sicht keine eindeutige Definition. Es gab schon verschiedene Versuche, es auf der Basis unterschiedlicher ethischer Theorien zu definieren. So bezeichnet man eine Handlung im ethischen Sinn als gut, weil sie bestimmte Folgen hat, weil sie eine Intention ausdrückt, weil sie Ausdruck eines bestimmten Charakterzugs ist oder weil sie eine Weltsicht repräsentiert. Aus meiner Sicht sind alle Aspekte zusammen genommen wesentliche Bestandteile einer Kultur der Ethik. Die Gründe dafür, dass wir bestimmte Handlungen als gut einstufen, können je nach Kontext variieren.

Ohne nachzudenken, kommt man nicht weiter

Sie sind Philosoph und beschäftigen sich mit Ethik. Was ist der Nutzen einer philosophischen Betrachtung der Ethik?

Der amerikanische Philosoph Jay Garfield

Der amerikanische Philosoph Jay Garfield. Foto C. Spitz

Garfield: Die Beschäftigung mit Ethik nützt uns, weil sie zu einem tieferen Verständnis unserer Werte und philosophischen Einstellungen führen kann. Das erleichtert die Entwicklung einer ethischen Kritik, und es wird auch einfacher, sich Methoden zur Kultivierung der Ethik auszudenken, wenn man genau weiß, worüber man spricht.

Auf der Grundlage der philosophischen Betrachtung kann man im Übrigen besser mit anderen über die Ethik in ihrem Verhalten sprechen, weil man dann dafür ein Vokabular, einen bestimmten Rahmen zur Verfügung hat. Ich glaube, je mehr man über etwas reflektiert, desto besser versteht man es. Und je besser man es versteht, desto versierter ist man in diesem Bereich

Oft ist es aber auch so, dass wir zwar darüber reden, was gut wäre, aber dann doch etwas ganz anderes tun.

Garfield: Ja, solche Dissonanzen gibt es. Aber wenn wir reflektieren, erkennen wir wenigstens, dass eine Dissonanz besteht, und haben eine Chance, sie aufzulösen.

Vielleicht auch nicht…

Garfield: Wenn man gar nicht nachdenkt, kommt man überhaupt nicht weiter. Bemerken wir eine Dissonanz, so kann das eine Veränderung auslösen, aber wenn man sie gar nicht erst wahrnimmt, hat man ja auch keine Motivation, etwas zu ändern. Die Dissonanz ist ungemütlich – das ist das Gute, denn es ist dann nicht zu übersehen.

Wie üben Sie Ethik in Ihrem Alltag?

Garfield: Die Grundlage ethischer Praxis ist eine gewisse Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit. Man muss wirklich lernen, die Welt und vor allem andere Menschen, Tiere, die Umwelt, Verhalten und Interaktionen so zu betrachten, dass der Fokus auf dem liegt, worauf es in ethischer Hinsicht ankommt.

Entscheidend ist, weniger selbstzentriert zu sein, denn das befähigt einen, mit einer gewissen Gelassenheit zu reagieren. Das ist für uns schwierig, da wir zum Egoismus neigen und reflexartig immer zuerst an uns selbst denken. Bei der Ethik kommt es darauf an, auf das Wohl der anderen ausgerichtet zu sein.

Mir gefällt die Unterscheidung, die ein tibetischer Kollege gemacht hat: Man kann sich gegenüber der Welt entweder reaktiv oder responsiv verhalten. Ich glaube, der Schlüssel zu ethischem Verhalten ist die Entwicklung von Responsitivität, das heißt, Offenheit für Situationen und Menschen zeigen und angemessen auf Ereignisse und auf die Bedürfnisse anderer reagieren.

Das ist für mich in erster Linie eine besondere Fähigkeit des Wahrnehmens. Es kann eine Art Resonanz, eine Übereinstimmung sein, muss es aber nicht. Im Fall von Ungerechtigkeit etwa wäre es nicht angebracht zuzustimmen und in Resonanz zu gehen.

Aber natürlich reicht die korrekte Wahrnehmung nicht aus. Der nächste Schritt ist das Handeln. Wenn wir uns dem Wohl der anderen verpflichtet fühlen, müssen wir überlegen, was wir tun und welche Methoden der Intervention unter den gegebenen Umständen hilfreich sind. Manchmal sind soziale Fähigkeiten vonnöten. Dann wieder gibt es Situationen, wo man nicht weiß, was man tun soll. In dem Fall ist es am besten, gar nichts zu tun, bis man wirklich begriffen hat, welche Art des Handelns Erfolg verspricht.

Spontaneität ist gut, aber nicht immer die beste Wahl, weil uns bei spontanem Handeln zuweilen schlimme Fehler unterlaufen. Es ist also manchmal die ethisch richtige Antwort, spontan auf jemanden zu reagieren, und manchmal ist es besser, sich zurückzuhalten und erst zu überlegen. All das sind die wichtigsten Voraussetzungen, um Ethik im eigenen Alltag umsetzen zu können.

Wir brauchen nicht die eine gute Theorie über das Gute

Wie bringen Sie das den Studenten bei, die Ihre Ethik-Vorlesungen besuchen?

Garfield: Die beste Art ist in meinen Augen, den Studentinnen und Studenten viele verschiedene westliche und asiatische Theorien vorzustellen. In fast jeder Tradition und in fast jedem Gedanken über Ethik stecken wichtige Erkenntnisse. Diese dann miteinander zu verknüpfen, ohne zu glauben, man müsse eine große, alles in sich vereinende Theorie über das Gute an sich kennen, ist in meinen Augen hilfreich.

Ich bin eher ein Partikularist, wenn es um Ethik geht. Ich glaube, dass jede ethisch relevante Situation einzigartig ist und dass es darauf ankommt, verschiedene Arten des Wahrnehmens und Nachdenkens kennenzulernen und ein gutes Gespür dafür zu entwickeln, wann welcher Ansatz passend ist.

Es gibt keine allgemeine Theorie, die einem erklärt, warum ein Gemälde oder ein Musikstück gut ist. Genau so gibt es keine allgemeine Theorie darüber, was einen guten Menschen ausmacht. Wir kennen verschiedene Arten, Gutes zu tun. Und jeder Situation muss man auf andere Weise begegnen.

So halte ich Vorträge über chinesische Ethik, die konfuzianische und taoistische Tradition. Ich unterrichte westliche Ethik: Aristoteles, Hume, Kant, die Utilitaristen und
Schopenhauer. Auch beziehe ich die klassische indische Ethik ein mit Texten wie der
Bhagavad Gita. Ich verwende Texte aus der buddhistischen Ethik – sowohl aus der frühen Pali-Tradition als auch aus Schriften des späteren indischen Mahayana-Buddhismus, des chinesischen und japanischen Buddhismus – überall werden unterschiedliche Fähigkeiten, Perspektiven betont.

Allerdings ist unser Einfluss als Lehrer nicht so groß, da wir nur ein paar Stunden pro Woche mit den Studenten zusammen sind. In dieser Zeit versuche ich ihnen deutlich zu machen, wie sie durch das Reflektieren über ethische Zusammenhänge herausfinden, was es ist, das Menschen haben, die sie bewundern, und wie sie durch Nachdenken zu besseren Menschen werden können.

Dabei vermittle ich ihnen auch, dass es immer eine Dissonanz gibt zwischen der Vorstellung, was für ein Mensch man gerne wäre, und dem, was man tatsächlich ist. Wir leben oft weit von unseren ethischen Idealen entfernt. Unser eigenes Wohlergehen und das unserer Mitmenschen hängt jedoch davon ab, wie wir unsere ethischen Grundsätze pflegen und leben.

Fast jede Handlung verursacht irgendwo Leiden

Wir leben in einer globalisierten uns komplexen Welt, was dazu führt, dass viele unserer Taten globale Auswirkungen haben, z.B. was wir essen oder konsumieren. Wie können wir dennoch weniger Leiden schaffen? Oder ist dieser Anspruch zu hoch?

Garfield: Fast alles, was wir tun, verursacht irgendwo ein gewisses Maß an Leiden. Es ist zu viel verlangt, überhaupt kein Leiden mehr auslösen zu wollen. Wenn ich etwas kaufe, beteilige ich mich indirekt an den Arbeitsbedingungen der Firma, habe etwas mit der Person zu tun, der das Geschäft gehört, mit den Prozessen, die zur Herstellung des Produkts beitragen. Ich kann also sicher sein, dass da irgendwann Leid entstanden ist.

Und das sogar wenn man Vegetarier ist….

Garfield: Das hilft einem auch nicht wirklich (lacht). Man kann schon mehr oder weniger Leid auslösen, aber es gibt keine Handlungen, mit denen man überhaupt kein Leiden schafft. Man kann bedacht handeln und erkennen, welches Leid man mit verschiedenen Handlungen auslöst und versuchen, es zu minimieren. Die meisten von uns können nicht einmal erkennen, dass sie Dinge tun, die mehr Leid als nötig produzieren.

Ich bin zum Beispiel nach Deutschland gereist und mache mir bewusst, welchen ökologischen Fußabdruck mein Flug über den Atlantik hinterlassen hat. Dadurch entsteht sehr viel Leiden.

Wie können wir mit diesem Dilemma umgehen? Müssen wir als Menschen einfach damit leben?

Garfield: Ja, ich glaube, wenn wir unser Leben in ethischer Hinsicht begreifen wollen, müssen wir uns damit abfinden, dass wir ständig ambivalente Entscheidungen treffen. Wir sollten versuchen, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln und ehrlich Bilanz ziehen.

Ich halte Ehrlichkeit und Klarheit für sehr wichtig und da hilft es, sich mit Theorie zu beschäftigen und zu reflektieren. Auf der Basis des Nachdenkens können wir versuchen, unser Leben so auszurichten, dass es unseren Werten besser entspricht. Aber dass wir zu Heiligen werden, ist höchst unwahrscheinlich.

Konsum ist für mich das größte ethische Problem

Was sind für Sie persönlich die schwierigsten ethischen Fragen heute?

Garfield: Was mir wirklich Kopfzerbrechen bereitet (seufzt, schweigt einen Moment)…..ist mein Verhalten als Konsument und die Auswirkungen auf die Umwelt und auf zukünftige Generationen.

Ich mache mir zum Beispiel Sorgen darüber, wie sich meine Reisen und mein Verbrauch von Ressourcen auswirken. Ich mache mir Gedanken, welche Auswirkungen meine Ernährung hat. Das ist die eine Frage. Die andere ist das Thema Ungleichheit. Mir ist bewusst, dass ich als Amerikaner, global gesehen, einer Gesellschaftsschicht angehöre, die viel mehr Ressourcen verbraucht als angemessen. Und ich glaube, dass ich eine Art moralische Verpflichtung habe, weniger zu verbrauchen und mehr wegzugeben.

Die Argumente von Leuten wie Peter Singer, dass Menschen, die wohlhabend sind, einen Großteil ihres Besitzes abgeben sollten, finde ich richtig. Aber ich tue das nicht. Und ich betrachte das als moralisches Scheitern. Das sind für mich wohl die größten Fragen, die mir schlaflose Nächte bereiten.

Und in welchem Bereich gelingt es Ihnen, mit Ihren Werten in Einklang zu leben?

Garfield: In meinen Berufsleben gelingt es mir. Die Art, wie ich lehre, wie ich mich Themen der Forschung widme, stimmt sehr gut mit meinen Werten überein.

Welches sind die wichtigsten ethischen Grundsätze, die Sie ihren Studenten vermitteln möchten?

Garfield: Zentral für die gelebte Ethik ist, eine Interaktion mit anderen zu kultivieren, in der man sich selbst zurücknimmt und weniger selbstzentriert ist. Wir sollten uns immer wieder ganz eindringlich fragen: Stelle ich mich in den Mittelpunkt dieser Interaktion oder sehe ich mich als Teil eines Großen Ganzen? Entsprechen meine Werte und Entscheidungen einem realistischen Selbstbild?

Lesen Sie auch das Interview mit Jay Garfield “Solidarität in Zeiten der Globalisierung”.

Jay Garfield hat auch eine eigene Kolumne “Ethische Alltagsfragen”.

Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen: „Engaging Buddhism. Why It Matters to Philosophy, Oxford University Press 2015

 

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