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“Wir müssen die Achtsamkeit nach außen bringen”

Fotowerkstatt Brambrink Karstens
Fotowerkstatt Brambrink Karstens

Ein Interview mit Sylvia Kolk

Achtsamkeit stellt das innere Gleichgewicht wieder her. Doch wir können uns nicht durch Achtsamkeit allein weiterentwickeln, ist Sylvia Kolk überzeugt. Die Buddhismuslehrerin sieht den Achtsamkeitstrend kritisch. Sie spricht im Interview über innere Freiheit und die Notwendigkeit, Achtsamkeit nicht nur für uns selbst, sondern für die Gesellschaft als Ganzes zu üben.

Das Gespräch führte Birgit Stratmann

Frage: Wofür ist Achtsamkeit gut?

Kolk: Sie hilft mir, in Balance zu kommen, d.h. wenn ich Achtsamkeit übe, stelle ich mein inneres Gleichgewicht her. Sie bringt Kraft; ich spüre, sobald ich achtsam atme, mehr Energie. Und sie verbindet mich mit dem Körper und dem Empfinden; dies ist zudem die Voraussetzung, anderen Menschen empathisch und mitfühlend zu begegnen.

Die Wurzeln liegen im Buddhismus. Im Pali gibt es den Begriff „sati“, das heißt eigentlich „erinnern“. Wir übersetzen es normalerweise mit Achtsamkeit. Ich benutze gern den Begriff „bewusste Geistesgegenwart“. Das bedeutet mehr, als in Ruhe eine Tasse Tee zu trinken oder, wie etwa im Kloster, Texte auswendig zu können. Sati geht einher mit Klarheit.

Mit der Klarheit kommt Stabilität, d.h. der Geist ist stabil ausgerichtet, z.B. auf den Atem. Jede von uns kennt Momente von Klarheit, aber sobald etwas Attraktives erscheint, verlieren wir sie. Wenn der Geist danach greift, ist die Klarheit weg.

Auf der Basis von Klarheit und Stabilität können wir Objekte genauer wahrnehmen und auf einer tieferen Ebene durchdringen. Dies nennen wir Wissensklarheit. Sati in Verbindung mit Wissensklarheit führt die zur befreienden Einsicht führt. So wird Sati zum Werkzeug für unsere persönliche Entwicklung.

Wir können uns nicht durch Achtsamkeit allein weiterentwickeln, wohl aber hilft sie uns, Gegenwärtigkeit, Klarheit, Balance und inneren Frieden zu erlangen, und das ist ja schon was. Für eine tiefere Transformation aber brauchen wir Weisheit, Einsicht in die Natur der Dinge, insbesondere natürlich unsere eigene Natur.

Was verstehen Sie unter „Einsicht“ oder „befreiender Einsicht“?

Kolk: Sati hilft zu schauen, wie unser Geist arbeitet, wie er sich verknotet, blockiert und wie er wieder ins Fließen kommt. Und sie ist viel mehr als nur Entspannung, sie transformiert radikal und ist nicht systemimmanent. Die Entspannung ist wichtig, aber ein Nebenprodukt. Sati führt zu der Erkenntnis, dass alles unbeständig, dynamisch, fließend ist und dass ich trotz der Unsicherheit glücklich leben kann.

Achtsamkeit kann die Funktion eines Teddybären haben

Liegt hier der Unterschied zwischen Achtsamkeit als „spiritueller Praxis“ und als säkularem Weg zur Beruhigung des Geistes?

Kolk: Ja genau. Achtsamkeit kann die Funktion eines Teddybären haben, d.h. ich fühle mich geborgen und zufrieden, aber nur für Momente. Spirituelle Praxis ist für mich aber viel mehr: Hier ist Achtsamkeit eingebettet in ein größeres Übungsfeld mit Weisheit, Geistestraining (Achtsamkeit und Sammlung) und Ethik. Alle drei Bereiche sind notwendig und stützen sich gegenseitig.

Achtsamkeit ist in unserer Gesellschaft angekommen, besonders MBSR, das Programm „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ von Jon Kabat-Zinn. Wie sehen Sie diesen Trend?

Kolk: Ich begrüße es natürlich, dass Achtsamkeit bekannt und wissenschaftlich erforscht wird. Vor allem bewundere ich, dass Jon Kabat-Zinn Menschen mit akuten und chronischen Schmerzen helfen konnte. Mit MBSR lernen sie, ihre Schmerzen anzunehmen und ihre Schmerztoleranz zu erweitern – eine großartige Sache.

Aber: Wenn etwas populär und damit massentauglich wird, besteht die Gefahr der Verflachung. Wir müssen uns klar machen, dass es unterschiedliche Ebenen und Übungen von Achtsamkeit gibt. Eine ähnliche Entwicklung haben wir beim Yoga gesehen. Yoga wird heute an jeder Ecke angeboten. Mit der Folge, dass bei vielen Angeboten die Einbettung in die tiefgründe Philosophie verloren ging.

Solch eine Entwicklung können wir in diesem Trend, Achtsamkeit auf zahlreiche Bereiche zu übertragen, auch feststellen. Ich will das nicht kritisieren, weil es normal ist, wenn ein Kulturgut in die Breite gebracht wird. Man muss es reduzieren und vereinfachen. Dadurch erfüllt es dann einen anderen Zweck. Vieles fällt weg, die Essenz geht verloren.

Ich denke, dass Jon Kabat-Zinn ein aufrichtiges Interesse hat, die Essenz der Achtsamkeit zu vermitteln, aber er kann den Trend nicht aufhalten. Der Kapitalismus macht alles zur Ware. Das sind die Nachteile eines Hypes.

Achtsamkeit in Firmen: Die Absicht ist entscheidend

Wie sehen Sie es, wenn Firmen Achtsamkeitstrainings für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anbieten?

Kolk: Es kommt auf die Absicht, auf die Motivation an. Warum macht eine Firma das Angebot? Will sie den Menschen dienen oder noch mehr aus ihnen herausholen?

Wichtig ist, dass hier Lehrerinnen und Lehrer unterrichten, die Achtsamkeit in einen größeren Kontext stellen können – und zwar aus eigener Kenntnis und Praxis. Es reicht nicht, Achtsamkeit als eine Art Technik zu unterrichten, losgelöst beispielsweise von Weisheit und Mitgefühl.

Würden Sie Achtsamkeit in einer Firma unterrichten, wenn es zur Leistungssteigerung eingesetzt wird?

Kolk: Nein, würde ich nicht. Wir wollen Achtsamkeit ja nicht nutzen, um ein schlechtes System zu stützen, etwa für noch mehr Ausbeutung, Verschwendung von Ressourcen, Umweltzerstörung usw. Sondern wir wollen das, was schief läuft, sehen, benennen und transformieren. Wir wollen mit Achtsamkeit ein neues Bewusstsein in die Welt bringen. Besonders wichtig ist mir das Erleben von Verbundenheit und das gemeinsame Handeln. Es kann nicht darum gehen, dass der Einzelne noch fitter und durchsetzungsstärker wird.

„Ich sehe die Tendenz zur Regression“

Die meisten sehen Achtsamkeit als eine persönliche Praxis. Ich bin mir meines Atems, meines Körper, meiner Gefühle und Gedanken bewusst. Hartmut Rosa kritisiert die Achtsamkeit als selbstbezogen. Ist Achtsamkeit eine Praxis für das Ego?

Kolk: Ja, Achtsamkeit kann zu einer selbstbezogenen Praxis verkommen, wenn die Selbstzufriedenheit zu sehr betont wird. Das kann, muss aber nicht sein. Der Buddha erschien in Indien in einer gesellschaftlichen Umbruchsituation. Der Mensch begann, sich aus einer Schicksalsergebenheit herauszulösen. Ein neues Weltbild entstand: „Ich kann selbst etwas tun und bewirken“. Genau das griff der Buddha auf. Er lehrte einen geistigen Weg zur Selbstbefreiung.

Heute ist die Situation aber eine ganz andere. Wir haben Jahrhunderte auf die Entwicklung des Individuums gesetzt. Derzeit fällt unsere Gesellschaft immer mehr auseinander. Das betrifft die Familien, Institutionen, politischen Bündnisse. Viele Menschen suchen Schutz und Geborgenheit und fragen: Wie kann ich persönlich besser dastehen? Das ist ein natürlicher Impuls.

Es ist okay, so zu denken, aber wir müssen uns bewusst sein, dass es der neurotische Geist ist, der so denkt. Im Moment sehe ich vielfach die Tendenz zur Regression. Viele finden sich in der globalisierten Welt nicht mehr zurecht.

Und tatsächlich haben wir für viele Probleme noch keine Lösung. Daher tendieren Menschen dazu, Geborgenheit und Sicherheit durch Abschottung zu finden, in kleinen Einheiten, spirituellen Gruppen, national gesinnten Verbänden, Nationen, Mauern und Grenzen. Das ist Regression, ein Rückfall in alte Zeiten, wo doch etwas Neues, Innovatives gebraucht würde.

Wir müssen eine geistige Kompetenz entwickeln, um die Welt, die wir selbst mitgestaltet haben, zu verändern und dafür zu sorgen, dass Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Gewalt überwunden werden.

„Jetzt ist die Zeit, politisch aktiv zu werden“

Das entspricht aber nicht wirklich dem, was passiert, wenn Menschen zu meditieren beginnen.

Kolk: Ja, selbst beim Buddha und übrigens auch in der griechischen Philosophie ging es um die Selbsterkenntnis. Ich erkenne, wer ich bin. Ich erkenne, dass ich leide. Das war ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des menschlichen Geistes, dass sich der Mensch zum Subjekt entwickelte und sich seiner selbst bewusst wurde.

Wir brauchen neue Werte und müssen zu einer neuen Form von Gemeinschaft, Solidarität finden, jedoch ohne den Individualismus ganz über Bord zu werfen. Wir müssen die Achtsamkeit nach außen bringen, statt sie nur nach Innen zu richten.

Achtsamkeit darf nicht zerstörerische Systeme schützen, systemimmanent sein, sondern wir sollten sie nutzen, um darüber hinauszugehen und etwas Neues zu schaffen, das dem Leben dient.

Verantwortung übernehmen, nicht nur für sich selbst

Was verstehen Sie unter einer Achtsamkeit, die nach außen gerichtet ist?

Kolk: Das bedeutet, dass wir Verantwortung nicht für uns selbst übernehmen, sondern für das Gesamte. Und hier kommt die Weisheit ins Spiel. Alles wirkt in einem riesigen Netz zusammen. Ich bin ein Teil, der auf dieses Netz einwirkt und von ihm mitgeprägt wird. Achtsamkeit hilft mir, anders in diesem Netz wirksam zu sein.

Es ist aus meiner Sicht eine ganz veraltete Interpretation, Achtsamkeit nur auf das Individuum zu richten. Wir müssen Achtsamkeit in unsere Welt stellen, um den großen Herausforderungen zu begegnen.

Es ist ja okay, wenn wir im ersten Schritt uns selbst heilen wollen, dazu ist Achtsamkeit hilfreich. Aber wir sollten darüber hinausgehen. Mit Selbstliebe allein kommen wir nicht weiter, auch wenn die Leute das gern hören.

Jetzt ist die Zeit, aktiv zu werden und in unserem politischen und solidarischen Handeln die Achtsamkeit zu nutzen, um klarer zu sehen und mehr Kraft zu haben. Miteinander zu handeln setzt im Übrigen auch Kraft frei.

Ohne Achtsamkeit geht nichts

Achtsamkeit und politisches Bewusstsein kommen aus verschiedenen Welten. Wie kann man beide zusammenbringen?

Kolk: Das ist die Aufgabe der nächsten 100 Jahre. Diese Trennung ist ein Denkmuster. Auch die Achtsamkeit als persönliche Praxis zu sehen ist ein Produkt dieses Konzepts, dieser Spaltung. Das gilt übrigens auch für die Wissenschaften. Alle wollen ihr eigenes Territorium absichern, groß machen und zu anderen abgrenzen.

Betrachten wir die großen Probleme unserer Zeit – politische Konflikte, soziale Verwerfungen, Umweltzerstörung, digitale Revolution – so können wir sie nicht mit dem Bewusstsein lösen, was sie hervorgebracht hat: dem Bewusstsein zu spalten und zu trennen, Dinge für richtig und falsch zu erklären usw. Wir brauchen ein neues Denken.

Dazu gehört die Dialogfähigkeit: dass ich von meinem Standpunkt absehen und mich für andere öffnen, mich berühren lassen kann. Dass wir überhaupt wieder Interesse aneinander entwickeln, das scheint mir eine der wichtigsten Fähigkeiten für die neue Zeit zu sein.

Wir müssen Verbindungen schaffen zwischen Wissenschaft und Religion, zwischen Politik und Spiritualität, statt zu trennen. Wenn wir anders auf die Welt schauen, wird sich auch das politische Gefüge verändern. Die Verbindung von innerer Arbeit, aufklärerischem Denken und politischem Engagement ist ungeheuer wichtig.

Jon Kabat-Zinn, der MBSR-Pionier sagt: „Achtsamkeit kann die Gesellschaft heilen“. Ist das so, oder braucht es da noch mehr als Achtsamkeit?

Kolk: Klar ist: Ohne Achtsamkeit geht es nicht. Ohne Achtsamkeit sind wir tot, wir müssen diese Fähigkeit in uns ausbilden. Aber wir brauchen noch viel mehr, vor allem Verbundenheit. Und diese entsteht, wenn wir in Dialog miteinander gehen.

Aus einem echten Dialog gehen wir als Menschen anders hervor, er transformiert uns. Nach einem echten Gespräch sind wir eine andere. Wir können mehr integrieren. Aus dieser Verbundenheit heraus zu handeln – das empfinde ich als zukunftsgerichtet.

Dr. phil. Sylvia Kolk, seit 25 Jahren buddhistische Meditationslehrerin, autorisiert durch Ayya Khema. Die buddhistische Lehre betrachtet sie als eine Wissenschaft des Geistes. Sie begleitet Praktizierende sowohl auf Retreats als auch im Alltag. Eine Verbindung dieser beiden Praxisbereiche sowie auch die zwischen Spiritualität und Gesellschaft liegen ihr sehr am Herzen. Sie ist Gründerin verschiedener Projekte wie das Buddhistische Stadt-Zentrum Hamburg e.V., die Buddhistische Stadt-Praxis, die Umdenkprozesse und ‚Zwei Flügel – Buddhismus und Gesellschaft e.V.‘, Autorin mehrerer Bücher.

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