Interview mit Manfred Spitzer
In der Corona-Krise erleben die Menschen Ängste, Kontrollverlust und Einsamkeit. Manche flüchten in Verschwörungstheorien. Der Mediziner und Psychologe Manfred Spitzer spricht im Interview über die Gefahren von Falschmeldungen und warum es wichtig ist, im Gespräch zu bleiben.
Auszug aus einem Gespräch, das Hendrik Hortz, Herausgeber der Zeitschrift „Ursache und Wirkung“, führte, Heft 114, 2020, soeben erschienen.
Hortz: Herr Professor Spitzer, die Pandemie ist noch jung. Aber Sie reagieren unverzüglich mit einem Buch „Pandemie – Was die Krise mit uns macht und was wir aus ihr machen“, das wenige Wochen, nachdem die Corona-Krise bei uns ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte, bereits in den Läden liegt. Sind Sie ein Schnellschreiber?
Spitzer: Nun ja, das meiste hatte ich schon im Kopf. Das musste ich lediglich aufschreiben. Viele Themen gehören zu meiner täglichen Arbeit.
Sie widmen in Ihrem Buch ein ganzes Kapitel dem Thema Verschwörungstheorien und führen einige Gründe dafür an: Angst, Gefühl des Kontrollverlusts usw..
Spitzer: Ja, da kommt vieles zusammen. Für mich als Psychiater ist das nicht unbedingt überraschend. Ängste machen das Denken nicht offener, sondern engen es ein. Sie verhindern daher kreatives Problemlösen. Ebenso mögen wir keine Veränderungen. Diese allzu menschlichen Regungen treffen dann auch wieder auf die digitalen Medien. Sie haben ihre eigenen Nebenwirkungen, ihre eigene Dynamik.
Inwiefern?
Spitzer: Bereits 2018 wurde eine Studie publiziert, die untersucht hat, wie sich wahre und falsche Meldungen über Twitter verbreiten. Während sich die haarsträubendsten Falschmeldungen rasant ausbreiten, tut sich die Wahrheit vergleichsweise schwer: Ein Kommentar zur Studie lautete: „Die Wahrheit zieht sich noch die Schuhe an, wenn die Lüge schon um die halbe Welt ist.“
Es hängt mit der Art zusammen, wie wir Menschen den Informationsgehalt einer Nachricht bewerten: Der ist umso höher, je unwahrscheinlicher sie ist. Twittere ich beispielsweise „Der Papst ist schwanger“, wird sich diese Nachricht rasch verbreiten. Sie besitzt aufgrund ihrer Unwahrscheinlichkeit für uns einen höheren Informationswert. Genau aus diesem Grund gab es immer schon Gerüchte. Die sozialen Medien oder Plattformen wie YouTube wirken daher wie ein Gerüchteturbo. Das sind weltweite Radikalisierungsinstrumente.
Steigende Nutzung digitaler Medien
YouTube hat das Fernsehen als Leitmedium für Bewegtbilder abgelöst. Aber im Unterschied zum Fernsehen, bei dem jeder selbst entscheidet, was er anschaut, werden hier etwa siebzig Prozent aller Videos angesehen, nachdem You-Tube sie vorgeschlagen hat.
Spitzer: Das jeweils nächste Video wird dabei von einem Algorithmus vorgeschlagen. Das ist dann ein bisschen radikaler als das Video zuvor, um die Leute am Bildschirm zu halten und die eigenen Werbeeinnahmen zu maximieren. Sie schauen etwas über vegetarische Ernährung, und nach ein paar Videos sind Sie bei veganer Küche. Sie schauen etwas über Jogging, und nach ein paar Videos sind Sie beim Ultramarathon.
Die Weltbevölkerung hat vor Corona eine Milliarde Stunden YouTube-Videos pro Tag geschaut. Nach Schätzungen ist dies seit Corona um dreißig Prozent angestiegen. Fakt ist, dass Twitter, Facebook und YouTube aufgrund der Art, wie sie funktionieren, zu einer Radikalisierung der Weltbevölkerung führen. Das darf uns nicht egal sein!
Ich glaube, jeder hat jemanden im Freundes- oder Bekanntenkreis oder in der Familie oder kennt jemanden, der jemanden kennt, der sich in Verschwörungsmythen verirrt hat. Was raten Sie hier als Psychiater? Wie geht man damit um?
Spitzer: Im Gespräch bleiben. Das Schlimmste, was passieren kann, ist der Abbruch des Gesprächsfadens. Es gehört zu meinen täglichen Aufgaben, mit Menschen, die an einem Wahn leiden, zu sprechen. Dabei ist es zunächst immer wichtig, Vertrauen zu gewinnen. Das ist die einzige Chance, die man hat.
Und natürlich ist das mühsam. Wahn ist definitionsgemäß eine Meinung, an der jemand unverrückbar festhält. Sie können daher jemandem, der unter einem Wahn leidet, diesen nicht ausreden. Könnten Sie das, dann wäre es kein Wahn. In jedem Fall gilt: Angst muss abgebaut und Vertrauen muss aufgebaut werden. Und man braucht viel Geduld und einen langen Atem.
Einsamkeit beeinträchtigt unser Immunsystem
Kommen wir auf die Faktoren Einsamkeit und Stress. Katastrophen oder Terrorakte verursachen bei Menschen Stress. Eine Epidemie und erst recht eine Pandemie tun das auch. Was macht dieser Stress mit uns und unseren Beziehungen?
Spitzer: Katastrophen können chronischen Stress verursachen, und der macht krank. Sie können aber auch das Gegenteil bewirken und uns näher zusammenrücken lassen. Was am Ende überwiegt, hängt von den genaueren Umständen ab. Im Hinblick auf Corona ist tatsächlich beides passiert: In Wuhan gab es mehr Ehescheidungen, und hierzulande ist man eher etwas näher zusammengerückt.
Wir haben derzeit keine Impfung und kein Medikament gegen Corona. Was wir haben, ist unser Immunsystem.
Folgendes erscheint mir in diesem Zusammenhang noch zu wenig Beachtung zu finden: Wir haben derzeit keine Impfung und kein Medikament gegen Corona. Was wir haben, ist unser Immunsystem. Dieses wird durch Einsamkeit als Folge von sozialer Isolation beeinträchtigt.
Durch die Maßnahmen im Lockdown schwächt man also genau das, was man als letzte Verteidigungslinie gegen das Virus hat. Wir haben allerdings keine guten Studien zu den psychologischen Auswirkungen der letzten großen Pandemie im Jahr 1918. Daher gibt es auch keine Daten, die als Grundlage für die Einschätzung der heutigen Situation dienen könnten.
Sie betonen die vielen negativen Auswirkungen, die die nicht-pharmakologischen Maßnahmen gegen das Virus bewirken können. Würden Sie sagen, dass diese Maßnahmen, etwa der Lockdown, nicht gerechtfertigt oder zu rigoros waren und sind?
Spitzer: Nein, das würde ich so nicht sagen. Es kann durchaus sein, dass wir Fehler gemacht haben. Aber hinterher ist man immer schlauer. Wir mussten in den Lockdown und müssen es gegebenenfalls wieder, um in irgendeiner Weise dem Infektionsgeschehen zu begegnen.
Aber trotzdem wäre es zum damaligen Zeitpunkt wichtig gewesen, Studien zu berücksichtigen, die sich mit den Folgen sozialer Isolation beschäftigen, und wir müssen das jetzt auch wieder tun, meine ich.
Erst neulich erschien eine Studie zur Excess mortality, zur überzähligen Sterblichkeit von Alzheimer-Patienten. Man hat gezeigt, dass die Anzahl der Verstorbenen mit Alzheimerdiagnose während der Corona-Zeit zugenommen hat.
Das hängt mit der verminderten Ansprache, mit der reduzierten sozialen Interaktion zusammen. Das führt bei diesen Patienten zu einer Verschlechterung ihres Befindens und eben auch zur überzähligen Mortalität.
Manfred Spitzer ist Mediziner, Psychologe und Philosoph, Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an der Universität Ulm und Leiter der psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. Autor des gerade erschienen Buches. Pandemie – was die Krise mit uns macht und was wir aus ihr machen. mvg Verlag 2020
Danke an die Zeitschrift „Ursache und Wirkung“, die das Gespräch in voller Länge in Heft 114, 2020 veröffentlicht hat. Zur Website